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Rückkehr zu einem Ort des Schreckens: Ernst-Friedrich Wirth war 1952 mehrere Monate im Gefängnis in der Leistikowstraße inhaftiert.

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Zeitzeuge berichtet in Gedenkstätte Leistikowstraße: Mit 19 Jahren zum Tode verurteilt

Der 90-jährige Zeitzeuge Ernst-Friedrich Wirth wurde einst im ehemaligen KGB-Gefängnis in Potsdam in Isolationshaft gesperrt und wegen angeblicher Spionage verurteilt. Bei einer Gedenkveranstaltung berichtet er von dem Grauen, das er erlebt hat.

Den Staat kritisieren und von einer besseren Gesellschaft träumen: Das waren die „Verbrechen“ von Ernst-Friedrich Wirth, der dafür 1952 von einem sowjetischen Militärtribunal in Potsdam die Höchststrafe erhielt. „Hier, an diesem Ort, wurde ich vor 71 Jahren zum Tode verurteilt“, sagte der 90-jährige Zeitzeuge am Dienstag bei einer Gedenkveranstaltung für die Inhaftierten des Gefängnisses Leistikowstraße.

Zwischen 1945 und 1991 erhielten mehr als 120 Inhaftierte des Gefängnisses ein Todesurteil (siehe Kasten). „Begnadigungen waren sehr selten“, sagte Gedenkstättenleiterin Ines Reich. „Herr Wirth gehört zu den wenigen, die auf diese Weise überlebt haben.“

Als Jugendlicher wuchs er im thüringischen Meuselwitz auf: „Nach dem Krieg hatten wir große Hoffnungen, dass wir endlich frei leben und atmen können“, sagt Wirth. Doch es kam anders: Die autoritäre Führung des SED-Regimes missfiel ihm, zusammen mit Gleichgesinnten gründete er eine Diskussionsgruppe, in der demokratische Alternativen erörtert wurden.

Ein Mitglied der Gruppe fuhr 1952 nach Westberlin und wurde auf dem Rückweg verhaftet – er hatte kritische Flugblätter dabei. Die Gruppe flog auf und wurde nach Potsdam gebracht. „Dort wurden wir wegen ‚Spionage‘ und ‚antisowjetischer Propaganda‘ und ‚Zugehörigkeit zu einer antisowjetischen Gruppe‘ angeklagt und endlos verhört“, sagt Wirth. 19 Jahre alt war er damals.

Hinlegen verboten

Er und seine Mitgefangenen wurden voneinander isoliert, in Einzelhaft gesteckt und durften nur einmal am Tag für zehn Minuten ihre Zelle verlassen, um auf dem Hof auf Toilette zu gehen. Für die Notdurft in der Zelle befand sich ein Eimer mit einem Lappen darauf, der einmal am Tag geleert wurde. Jeden Tag um sechs Uhr wurde er geweckt, bekam kurz darauf eine dünne Suppe und etwas Brot, am Nachmittag gab es dann noch einen Teller Kohlsuppe. „Und das wars dann“, so Wirth.

Es gab keine Freigänge, keine Bücher, keine Ablenkung. Die Fenster waren mit Holzblenden versperrt. „Es war tagsüber nur erlaubt, in der Zelle zu stehen oder aufrecht zu sitzen“, sagt Wirth. „Man durfte sich nicht hinlegen oder an die Wand lehnen, das wurde ständig kontrolliert.“ Nachts zwischen elf und vier Uhr fanden die Verhöre statt. „Die einzige Gelegenheit, bei der man andere Menschen sah“, so Wirth.

Drei Monate ging das so, dann wurden er und seine Freunde vor ein Tribunal gestellt. „Die ganze Verhandlung lief auf Russisch und war schlecht ins Deutsche übersetzt“, so Wirth. „Ganz lapidar sagte der Richter: Du bist zum Tode verurteilt.“ Drei seiner Freunde traf dasselbe Urteil, die anderen bekamen 25 Jahre Lagerhaft.

Trotz des Schocks: Wirth und seine Freunde nahmen die Urteile nicht ernst – sie konnten nicht glauben, dass sie wegen so harmloser „Vergehen“ mit dem Leben bezahlen sollten. Sie schrieben ein Gnadengesuch und wurden nach Moskau gebracht, in das berüchtigte Butyrka-Gefängnis. Wirth hatte Glück, sein Urteil wurde in 20 Jahre Lagerhaft umgewandelt. Die Gnadengesuche seiner Freunde wurden abgelehnt, ohne dass Wirth davon erfuhr: Sie wurden erschossen, ihre Leichen wurden verbrannt und ihre Asche in einem Massengrab verscharrt.

Wirth und seine deutschen Mitgefangenen hielten es nicht mehr aus in dem engen Gefängnis, sie wollten möglichst schnell in das Lager in Workuta kommen. „Bei uns in der Zelle saßen zwei Russen, die gerade von dort kamen. Sie sagten: Seid dankbar für jeden Tag, den ihr hier drin sein könnt.“

Schuften bei minus 40 Grad

Diese Worte sollten sich bewahrheiten: Zusammen mit vielen anderen Verurteilten wurde Wirth zehn Tage lang eng zusammengepfercht in einem Güterwaggon nach Workuta transportiert. „Workuta liegt nördlich des Polarkreises, im Winter kann es dort minus 40 Grad kalt werden.“ Die Gefangenen des Gulags mussten Schwerstarbeit verrichten. Aufgrund seiner Kurzsichtigkeit musste Wirth jedoch nicht unter Tage in einem der vielen Steinkohleschächte arbeiten. Stattdessen wurde er zum Eisenbahnbau abkommandiert.

„Die Arbeitszeit betrug täglich zwölf Stunden, ohne den Arbeitsweg“, sagt Wirth. Nach Stalins Tod 1953 verbesserten sich die Bedingungen etwas: Arbeitszeit und Strafen wurden reduziert, einige Deutsche durften nach Hause fahren. Wirth musste sich noch gedulden: 1954 kam er in ein anderes Lager, weiter im Süden, wo es nicht ganz so kalt war. Im Januar 1956 war es dann endlich soweit: Wirth konnte die Sowjetunion verlassen und fuhr nach Westdeutschland.

„Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekam ich 1996 den Bescheid von der russischen Oberstaatsanwaltschaft, dass ich rehabilitiert worden bin“, sagte Wirth. „Auch meine zum Tod verurteilten Freunde waren rehabilitiert worden. Das hat ihnen natürlich nichts mehr genutzt.“

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