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Brandenburg: Sächsisches Dorf im märkischen Sand Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelten Leute aus dem sächsischen Rochlitz in der Uckermark. Noch heute ist der Dialekt aus der alten Heimat zu hören

Neurochlitz/Rochlitz - „Im Spätsommer 1948 fuhren die ersten Eroberer von Rochlitz in das namenlose Land.“ - Das schrieb Gerda Görl in die Chronik des Dorfes Neurochlitz (Brandenburg).

Neurochlitz/Rochlitz - „Im Spätsommer 1948 fuhren die ersten Eroberer von Rochlitz in das namenlose Land.“ - Das schrieb Gerda Görl in die Chronik des Dorfes Neurochlitz (Brandenburg). Görl war die erste Frau, die mit anderen Enthusiasten nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Kreis Rochlitz (Sachsen) in den Nordosten Brandenburgs kam, um dort zu siedeln, auf freiem Feld. Die Sachsen kamen mit Flüchtlingen aus Schlesien und Ostpreußen innerhalb der Initiative „Industriearbeiter auf`s Land“, erzählt Ortsbürgermeister Wilfried Burghardt (CDU). Es gab viel Land und kaum Bewohner.

Das sächsische Rochlitz, Stadt des roten Porphyrs, war Namensgeber für das neue Dorf, das die Siedler in die pommersche Landschaft bauten. Das offizielle Gründungsdatum ist ein historisches, der 7. Oktober 1949. „Wir sind das jüngste Dorf der Uckermark“, sagt Burghardt mit Blick in die mehrere Mappen umfassende Dorfchronik. Heute gehört Neurochlitz zur Gemeinde Mescherin, hat knapp 140 Einwohner, darunter auch drei polnische Familien. Die Bundesstraße B2 teilt das schmucke Dorf in einen West- und einen Ostteil. Die Straße führt direkt nach Stettin (Szczecin). Die polnische Hafenstadt liegt kaum 20 Kilometer entfernt, die Große Kreisstadt Rochlitz dagegen 420 Kilometer.

Zu den ersten Siedlern gehört die heute 88-jährige Ruth Proszak, die mit Mann und Kindern 1948 „rausmachte“. „Wir errichteten zunächst Holzbaracken“, erinnert sie sich. „Es zog durch die Ritzen, regnete durch und war bitterkalt. Jede Familie bekam pro Tag zwei Eimer Trinkwasser“, sagt die frühere Krankenschwester. Sie baute Erbsen, Mohn und Rüben an, arbeitete als Bibliothekarin und war 50 Jahre Gemeindeschwester. Sie hat Frauen entbunden und Tote in den Sarg gelegt.

Der frühere Rochlitzer Landrat Erich Knorr, heute 98-jährig, hatte den Landstrich entdeckt und die Idee, das Dorf zu bauen. Seine Pläne erhielten im Kreistag grünes Licht. 40 Neubauern und zwei Handwerker wagten den Schritt. Nach Krieg und Grenzverschiebung galt es, die Ländereien dreier Güter unmittelbar an der neuen deutsch-polnischen Grenze aufzuteilen: Knapp 10 Hektar pro Familie.

Das Vieh wurde verlost.

Mit der Initiative sollte der Führungsanspruch der SED auf dem Land durchgesetzt werden, erläutert Diplom-Ethnologe Reinhard Schmook. Manche Siedler wurden in Funktionen eingesetzt. „Machten sie ihre Sache gut, wurden sie auch von den Bauern anerkannt.“ Wenn nicht, verließen sie die Region meist schnell wieder. Auch sollten sie dafür sorgen, dass die Heimatvertriebenen integriert wurden.

„Hier tragen alle Dörfer ringsum die Endung -ow, wie Rosow, Tantow, Geesow, Radekow. Da dachte ich oft: Oh weh, oh weh“, blickt Proszak zurück. Man dachte, hier fließe Milch und Honig, meint Proszak. Doch erwartete die Siedler schwere, ungewohnte Landarbeit. „Um Brot mussten wir nach Tantow laufen. Zum Wäschewaschen holten wir Wasser aus einem Teich. Es gab keine Straße, alles war primitiv.

Der Lehrer wurde täglich in einem anderen Haushalt verköstigt.“ Kam der Landfilm, mussten die Neurochlitzer ihren eigenen Stuhl mitbringen. „Doch der Zusammenhalt - so etwas gibt es nicht wieder“, sagt „Schwester Ruth“ mit fester Stimme. „Keiner verschloss seine Haustür.“ Die Holzbaracken wichen Steinhäusern. Es kamen Spenden, auch aus Rochlitz.

„Für viele war es Neuland“, sagt der 51-jährige Bürgermeister und berichtete von den Zeiten, als es im Ort Konsum, Gaststätte, Schule, Kindergarten und Post gab. Geblieben ist das Kulturhaus mit einem Vereinslokal, das freitags bis sonntags geöffnet ist. Abgeschnitten im äußersten östlichen Zipfel Brandenburgs sind die Neurochlitzer aber nicht: Es fahren Schulbusse. Bäcker, Fleischer, und Fischer bieten regelmäßig frische Waren an. Und was eher selten ist: Trotz der Abwanderung steht in Neurochlitz kein Haus leer. „Es sind nach der Wende viele wiedergekommen“, freut sich Bürgermeister Burghardt.

Zu denen, die noch nicht so lange im Ort leben, gehört die Rochlitzerin Silke Hegemann. Als Jugendliche war sie oft in Neurochlitz, wo die Elternhäuser ihrer Eltern stehen. 2001 zog sie mit ihren Kindern aus Sachsen in den „hohen Norden“ und heiratete einen Uckermärker. „Ich fühle mich wohl“, sagt die Krankenschwester. „Es ist angenehm und ruhig hier.“ Aber es fehlten Freunde und der Weg zur Arbeit sei weit.

„Dennoch genieße ich die Ruhe.“ Wie andere im Ort auch spricht sie sächsisch. Oft sprechen sie Patienten an: „Von hier sind sie nicht.“ Die 42-Jährige schmunzelt und blinzelt in ihrem blühenden Garten in die Frühlingssonne. „Es ist wie Urlaub hier. Wenn meine Verwandtschaft aus Rochlitz zu Besuch kommt, sitzt sie fast nur im Garten.“ Die Stadt Rochlitz schickte zur 50-Jahr-Feier von Neurochlitz 1999 Glückwünsche. „Die Stadt wäre nicht abgeneigt, wieder eine Verbindung herzustellen“, betont Kerstin Arndt (FDP), Oberbürgermeisterin der rund 6300 Einwohner zählenden Großen Kreisstadt.

Steffi Prutean

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