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Zu hoher Salzgehalt: Greenpeace bei Messungen in Polen.

© Robert Klages/Tagesspiegel

Exklusiv

Greenpeace untersucht Flüsse: Hat der Bergbau die Oder verseucht?

Die Oder-Katastrophe im August 2022 wirft weiter Fragen auf. Ein deutsch-polnisches Greenpeace-Team sucht Schuldige – nun ist der Report erschienen.

Julios Kontchou stapft mit großen Schritten durch den polnischen Schnee in Richtung des dampfenden Flusses. Es ist Dezember. Der Ökotoxikologe von Greenpeace nimmt Wasserproben in einem Nebenfluss der Oder. Die Umweltorganisation will hier in Schlesien herausfinden, wie es zu dem massiven Fischsterben im August 2022 kam und wer dafür verantwortlich ist. Der Tagesspiegel und der SWR waren exklusiv bei den mehrtägigen Probeentnahmen dabei.

Seine quadratische, silberne Tasche mit den Messinstrumenten trägt Kontchou geschultert wie ein Pizza-Lieferant kurz vor der Haustür. Kälte hängt in der Landschaft, im Hintergrund ein Kraftwerk, hoch und schmal und von Weitem leise wie der Schnee.

Greenpeace lässt die insgesamt 17 Wasserproben in einem Labor auswerten. Im Februar werden die Ergebnisse da sein, am 2. März auf einer Pressekonferenz in Warschau wird Greenpeace nun mitteilen: Polnische Bergbaukonzerne seien an mehr als 200 Tonnen totem Fisch im August und der Verschmutzung der Oder schuld. Die Wassereinleitung durch die Bergbauindustrie weise einen ungewöhnlich hohen Salzgehalt auf.

Nina Noelle und Julios Kontchou bei Messungen an polnischen Gewässern.

© Robert Klages/Tagesspiegel

Erhöhter Salzgehalt führt zur massiven Vermehrung der Brackwasseralge Prymnesium parvum, die für Fische tödlich ist. Die genaue Quelle der Salze sei unklar, hatten Forscher:innen des deutschen Umweltministeriums noch im September mitgeteilt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch handele es sich um industrielle Einleitungen. Weiter kam das Ministerium nicht, auf Anfragen des Tagesspiegels reagiert es nicht.

Im Dezember untersucht Greenpeace die Oder-Nebenflüsse Klodnica und Bierawka, ebenso den Bach Kochłówka, einen Zufluss der Klodnica nahe Katowice.

Greenpeace: mangelnde Überwachung in Polen schuld an Umweltkatastrophe

Kontchou nimmt auch Proben aus einem Abwasserkanal, der in einen Fluss mündet. Als sie das letzte Mal hier waren, habe der Konzern kurzerhand den Wasserablauf ausgestellt, erzählt der Wissenschaftler. Diesmal haben die Umweltschützer:innen mehr Glück. Kontchou schüttelt den Kopf: Der Salzgehalt ist höher als in der Ostsee, sogar höher als im Toten Meer. Greenpeace vermutete, dass aus der polnischen Industrie zu viel Salz in die Oder gelangt, aber dass es so viel ist, hatte das Team nicht erwartet.

Das Ergebnis nun im März: „Salzhaltige Einleitungen aus drei Bergwerken der polnischen Bergbaukonzerne Polska Grupa Gornicza (PGG) und Jastrzebska Społka Weglowa S.A. (JSW SA) haben das Fischsterben in der Oder verursacht“, so der Greenpeace-Report, der dem Tagesspiegel und dem SWR vorab exklusiv vorliegt. Darin geht es nicht nur um die Oder: Auch die Weichsel, die unter anderem durch Warschau fließt, ist stark versalzen. Greenpeace Polska erhofft sich durch die Pressekonferenz eine erhöhte Aufmerksamkeit für das Thema. Die Grenzwerte werden auch hier um ein Zigfaches überschritten.

Die Kombination aus ignoranten Politiker:innen, untätigen Behörden und skrupellosen Konzernen hat dazu geführt, dass ein ganzer Fluss zunächst versalzen und dann vergiftet wurde.

Nina Noelle, Projektleiterin von Greenpeace Deutschland

Ein Sprecher des Bergbaukonzerns JSW SA antwortete auf eine Tagesspiegel-Anfrage im Januar, beim Unternehmen seien viele Kontrollen durchgeführt und keine Unregelmäßigkeiten festgestellt worden. Ein IT-System überwache die Zusammensetzung der Abwässer, die Daten würden den Kontrollbehörden zur Verfügung gestellt. Der andere Konzern PGG reagierte nicht auf eine Anfrage.

„Die Kombination aus ignoranten Politiker:innen, untätigen Behörden und skrupellosen Konzernen hat dazu geführt, dass ein ganzer Fluss zunächst versalzen und dann vergiftet wurde“, sagt Nina Noelle, Projektleiterin von Greenpeace Deutschland.

Wohnen neben dem Förderband: Bielszowice in Schlesien.

© Robert Klages/Tagesspiegel

Drei Tage lang im Dezember misst Greenpeace in rund zehn Nebenflüssen der Oder in der Region rund um die polnische Großstadt Katowice in Schlesien und nimmt Gegenproben. Arbeitersiedlungen und Industrie, Kohlebergwerke dominieren in dem Gebiet, viele Arbeitsplätze hängen an den Konzernen.

Greenpeace sicher: Kohleabbau führte zum Fischsterben im August

In einer Kleinstadt wird Abwasser aus der Kohleabbauindustrie in einen Fluss geleitet, der wenige Kilometer später in die Oder fließt. Das Wasser ist gräulich und riecht streng. Der Salzgehalt ist ebenfalls höher als in der Ostsee, wie Kontchou mit einem Messinstrument direkt vor Ort feststellen kann. „Vor allem der Kohleabbau in Polen ist maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass es im Sommer letzten Jahres zu diesem massiven Fischsterben kam“, sagt Campaignerin Noelle.

In einem anderen Fluss misst Kontchou direkt neben der Einleitung eines Bergbauunternehmens einen Leitfähigkeitsgehalt von 60.000 Mikrosiemens pro Zentimeter, also einen Salzgehalt, der 60-mal so hoch ist wie der in der Ostsee. Die Greenpeace-Daten zeigen, dass die Einleitungen der Kohlebergwerke in den Nebenflüssen der Oder zu Salzgehalten führen, die üblicherweise in Brackwasser zu finden sind, nicht aber in Süßwasser.

Kontchou ist erst seit sechs Monaten bei Greenpeace. Er hat Biochemie in Kamerun studiert und an der Universität in Duisburg zur Verseuchung von Fließgewässern geforscht. Er hatte viele Angebote von Konzernen und aus der Wissenschaft, aber er wollte gerne zu einer Umweltorganisation.

Leitet die Industrie in Polen zu viel Salz in die Flüsse? Greenpeace misst nach.

© Robert Klages/Tagesspiegel

Greenpeace begann direkt nach der Katastrophe im August damit, den Fall zu untersuchen. Die Zusammenarbeit mit den polnischen Kollegen funktioniere besser als die der Kommission, die Deutschland und Polen ins Leben gerufen hat, sagt Noelle. „Wenn schon die Zusammenarbeit zwischen Expert:innen nicht funktioniert, wie wollen wir dann den grenzüberschreitenden Naturschutz gewährleisten?“

Wenn schon die Zusammenarbeit zwischen Expert:innen nicht funktioniert, wie wollen wir dann den grenzüberschreitenden Naturschutz gewährleisten?

Nina Noelle, Greenpeace-Campaignerin

Die Kommission hatte im letzten Jahr keine konkreten Ergebnisse und nicht mal einen gemeinsamen Bericht vorlegen können. Angeblich, weil wichtige, angeforderte Daten von polnischer Seite nicht geliefert worden waren. Die Oder-Verseuchung führte zu einem neuen Tiefpunkt mit gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Polen und Deutschland.

Kalte Arbeit: Drei Tage lang im Dezember untersuchen Greenpeace-Mitarbeiter:innen die Flüsse.

© Robert Klages/Tagesspiegel

Die Staatsanwaltschaft in Breslau hatte mehr als 400 Zeug:innen befragt – ohne Ergebnis. Auch die polnische Umweltbehörde konnte keine Ursache feststellen und hatte im September mitgeteilt, kein kontrollierter Betrieb habe mehr Abwasser als gewöhnlich eingeleitet, es hätten Genehmigungen vorgelegen.

Chlorid-Grenzwerte werden um das 38-Fache überschritten

Dabei muss Kontchou nur den Messstab in die Nebenflüsse halten, um festzustellen, dass der Salzgehalt zu hoch ist. Die Chloridwerte liegen laut Greenpeace-Report zwischen dem 8,5- und 38-Fachen des deutschen Grenzwertes. Das eingeleitete Wasser eines Bergwerks zeigt einen Chloridwert 48-mal über dem Grenzwert.

Chlorid ist das hauptsächliche Salz-Ion, das von den Bergwerken freigesetzt wird. Die Grenzwerte der polnischen Verordnung für Industrieabwässer wurden in den Abwässern des Bergbaus um das Drei- bis Neunfache überschritten – so der Greenpeace-Report.

Polnisches Umweltministerium: Oder bereits „stark versalzen“

Das polnische Umweltministerium antwortet auf eine Tagesspiegel-Anfrage, die Qualität des Oderwassers werde laufend überwacht. Eine Analyse auf Grundlage der in den Jahren 2016 bis 2021 durchgeführten Proben weise allerdings auf den „schlechten ökologischen Zustand“ des Flusswassers hin. Der Salzgehalt der Oder ändere sich entlang ihres Verlaufs.

Greenpeace nimmt Gewässerproben in zahlreichen Oder-Nebenflüssen und Abwasserkanälen der Industrie.

© Robert Klages/Tagesspiegel

Auch das Ministerium in Polen erkennt Schuldige: Die höchsten Werte seien im Oberlauf zu beobachten, wo Abwasser aus dem Bergbau eingeleitet werde. Die Messreihe der Langzeitüberwachung sei durch hohe Schwankungen gekennzeichnet, was sowohl mit den Einleitungen von salzhaltigem Wasser als auch mit den hydrologischen Bedingungen zusammenhänge: „Die in den letzten Jahren aufgetretenen regenarmen Perioden mit hohen Lufttemperaturen können einen erheblichen Einfluss auf den Salzgehalt der Oder haben“, so das Ministerium. Auch Greenpeace schreibt im Report, die Flüsse seien im Sommer stärker versalzen.

Auf der Suche nach den Ursachen: Julios Kontchou stapft durch den Schnee.

© Robert Klages/Tagesspiegel

2023 wurden die Kontrollen in der Oder ausgebaut

Das polnische Umweltministerium scheint über die Verseuchung der Oder Bescheid zu wissen: Auf dem Gebiet der Woiwodschaft Dolnoslaskie (Breslau, Schlesien) sei der Fluss bereits „stark versalzen“, schreibt es, und nur in einigen, ausgesprochen nassen Jahren lägen die durchschnittlichen Jahreswerte unter dem Grenzwert. In anderen Bereichen mit vielen Nebenflüssen nehme der Salzgehalt ab. Generell seien an den untersuchten Stellen die Grenzwerte für den Salzgehalt in den vergangenen Jahren überschritten worden.

An 20 festgelegten Stellen in fünf Woiwodschaften entlang der Oder würden derzeit zwei Mal wöchentlich Wasserproben genommen. Seit Beginn des Jahres seien die Kontrollen „aufgrund der Situation an der Oder“ ausgebaut worden.

Auch die Betriebe und ihr salzhaltiges Abwasser würden „systematisch kontrolliert“, wie das polnische Umweltministerium weiter schreibt. Für die Einleitung von Abwässern in den Boden oder in Flüsse sei eine Genehmigung erforderlich und die Betriebe seien verpflichtet, deren Mengen und Qualität zu überwachen und die Ergebnisse mitzuteilen sowie zu belegen, dass die Messungen von qualifizierten Laboratorien durchgeführt wurden.

Greenpeace fordert strengere Kontrollen

Zudem führe die Umweltinspektion geplante sowie nicht geplante Kontrollen durch. Letztere erfolgen allerdings nur, wenn die Behörde Informationen oder Anzeigen über eine Wasserverschmutzung erhält. Für Greenpeace belegen diese Aussagen aus Polen nur deren „Untätigkeit bei der Suche nach Verursachern“ – und dass lediglich in der Oder gemessen werde, die Zuläufe blieben unbeobachtet. „Doch gerade dort sind die verursachenden Betriebe angesiedelt“, so Greenpeace.

Polens Vize-Umweltminister Jacek Ozdoba erkannte bereits letztes Jahr, dass der Salzgehalt zu hoch ist, man müsse sich „Gedanken machen“. Greenpeace reicht das nicht aus. Es müsse jetzt dringend etwas geschehen, um eine weitere Katastrophe in der Oder zu verhindern: Die Grenzwerte müssten herabgesetzt und strenger kontrolliert werden. Gerade weil der Klimawandel immer stärker zur erhöhten Versalzung beitrage, müssen die Einleitungen von Salz dringend verringert werden.

Der Autor hat die Recherche für diesen Artikel auch durch ein Stipendium der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit finanziert. Die Stiftung hatte weder Einfluss auf den Artikel noch fanden Absprachen bezüglich der Themenwahl o.Ä. statt.

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