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Enteignung: Ein Unrecht, das längst nicht getilgt ist

Über 10.000 Grundstücke wurden kalt enteignet: Heute bilanziert das Parlament den Skandal – doch viele Opfer warten noch auf die Rückgabe ihrer Parzellen.

Müncheberg – Margot Steinborn sitzt hinter ihrem Schreibtisch zwischen Eierkartons und Gemüsezwiebeln. Vor ihrem „Kontor“ in Müncheberg stapeln sich zentnerschwere Möhrengebinde und pralle graue Säcke voller Futter für Rassetauben, Pferde, Schweine, Hunde, Katzen – „für alles, was vier Beine hat“, sagt sie. „Der Futterspezialist“ heißt der kleine Laden, in dem sie täglich „eine Tonne“ Säcke aus den Lieferwagen heraus- und in die Autos der Kunden wieder hineinwuchtet. Viel verdient die Tochter brandenburgischer Neubauern nicht, sie ist nur angestellt. Das karge Auskommen bessert eine kleine Pacht aus geerbtem Wald- und Ackerland auf. Doch diese Bodenreformflächen nahm ihr das Land Brandenburg weg. Die Enteignung geschah ohne Warnung – einer von rund 10 000 Fällen groben Unrechts.

So urteilte der Bundesgerichtshof vor gut einem Jahr: Die Landnahme sei „eines Rechtsstaates nicht würdig“. Und den Trick, mit dem die brandenburgischen Landesämter auf fremdes Grundeigentum zugriffen, nannten die obersten Richter „sittenwidrig“. Dabei hatte Brandenburg wie alle Regierungen der neuen Bundesländer acht Jahre Zeit gehabt, die Eigentümer von Bodenreformflächen zu ermitteln. Wer zu DDR-Zeiten in der Landwirtschaft tätig war, sollte die Flächen behalten – anderenfalls fielen sie in Staatseigentum. Potsdam begann viel zu spät mit der Suche. Kurz vor Ablauf der Frist, am 2. Oktober 2000, griff man dann zu dem sittenwidrigen Trick, um möglichst viele Neubauern ungefragt zu enteignen. Das Potsdamer Parlament setzte einen Untersuchungsausschuss ein. Der Abschlussbericht wird im Landtag heute diskutiert. Überraschungen wird es nicht geben.

Bei der Landesregierung heißt es, man sei „nicht bewusst unrechtmäßig vorgegangen, um sich zu bereichern“, und gebe die Grundstücke nun zurück. Eine Verantwortung auf Ministerebene gebe es nicht. Die Opposition höhnt: Fachabteilungen hätten wohl ein Eigenleben. Aber dafür trügen Minister trotzdem die Verantwortung. Neubauer-Vertreter fordern, Potsdam müsse nun verstärkt die rechtmäßigen Eigentümer ermitteln. Doch die Regierung habe kein Einsehen.

Beim „Futterspezialisten“ geht die Tür alle paar Minuten. Viele ihrer Kunden kennt Margot Steinborn gut, man plauscht und tauscht aus. „Wir kennen uns doch alle im Dorf“, sagt die rothaarige 56-Jährige. Die guten Kontakte halfen ihr auch vor drei Jahren, als die Pacht für ihre Acker- und Waldflächen plötzlich ausblieb: Ulla, die Chefsekretärin der Agrargenossenschaft, verriet ihr, dass Potsdam die Pachtzahlungen verlange. Begründung: Das Land sei neuer Eigentümer der Scholle. Margot Steinborn war wie vor den Kopf geschlagen.

Beim Brandenburger Finanzministerium sagt ein Sprecher zwar: „Es gab eine flächendeckende Recherche“ nach den Erben des Reformlandes. Er räumt aber auch „Defizite“ ein. Und der Untersuchungsausschuss stellte fest: Die Suche begann viel zu spät und wurde nicht gründlich geführt. Im Fall von Margot Steinborn zum Beispiel. Ihre Eltern standen im Grundbuch, Margot Steinborn arbeitete selbst zu DDR-Zeiten in der Landwirtschaft, und der Pächter der Bodenreformflächen zahlte ihr die Nutzungsgebühr. Ein Anruf bei der Agrargenossenschaft hätte also gereicht, um sie als Erbin zu ermitteln. Doch es rief niemand an.

Keine Recherchen gab es auch in vielen anderen Fällen, sagt Thorsten Purps. Der Rechtsanwalt in Potsdam zählt zu den zähesten Kämpfern für die Sache der Neubauern. Das liegt wohl auch in seiner Natur: ein sehniger Mann mit dunklem Oberlippenbart und wachen Augen hinter der schwarzen Halbrandbrille. Wie ein „Selbstbedienungsladen sondergleichen“ halte Brandenburg am Eigentum der Neubauern fest – trotz des klaren höchstrichterlichen Urteils. Plötzlich wird in etwa so getan, als gelte das BGH-Urteil nur für den Einzelfall.

Purps greift die Landesregierung deshalb so scharf an, weil Potsdam nach seiner Auffassung die Suche nach rechtmäßigen Eigentümern der Bodenreformflächen bis heute verschleppt. Rund 10 200 Parzellen sind von dem BGH-Urteil betroffen und gehören den Neubauern und ihren Erben. Das Land hatte die DDR ihnen in den späten 1940ern und 50er Jahren überlassen und die Bauern sogar als Eigentümer ins Grundbuch eingetragen. „Etwa 7000 von ihnen könnte man auffinden, wenn das Land eine öffentliche Aufforderung durchführen würde“, sagt Purps. Bei diesem Verfahren würden die Grundstücke im deutschlandweit erscheinenden Bundesanzeiger veröffentlicht und Heerscharen professioneller Erbenermittler in die Spur treten. Stattdessen wurde bisher nur knapp 500 Erben die Rückgabe zugesichert. Weil Potsdam die Rückgabe blockiere, glaubt Purps.

Das Finanzministerium widerspricht: „Das Land wird als Eigentümer aus den Grundbüchern wieder gelöscht“, sagt Ingo Decker. Danach würden gerichtlich bestellte Pfleger die Parzellen verwalten. In deren Hand liege es, ob die Erbensuche wieder aufgenommen wird. Eine öffentliche Aufforderung erfolge nicht. Dafür seien Anzeigen in der Regionalpresse geschaltet worden.

Experten glauben allerdings, dass der größte Teil der Neubauern nicht mehr in der Region lebt. Die meisten seien vor dem Bau der Mauer oder in den letzten 20 Jahren fortgezogen. Deshalb erführen sie auch nichts davon. Unter Zeitdruck seien sie aber auch nicht, sagt der Berliner Rechtsanwalt Ulrich Mohr: „Weil sich das Land die Grundstücke sittenwidrig aneignete, sind alle Grundbucheintragungen ohnehin nichtig.“ Jetzt hätten die Neubauern und ihre Erben 30 Jahre Zeit, ihre Schollen zurückzufordern. Mohr, der auch Notar ist, sitzt an einem massiven Schreibtisch aus der Gründerzeit. Das Pendel der Standuhr steht. An der Wand hängt eine Loriot-Zeichnung. Mohr hat das Urteil vor dem Bundesgerichtshof erstritten für zwei seiner Mandanten. „Es war ein schwerer Fehler Potsdams, dieses Unrechtsverfahren einzuleiten“, sagt er und schmunzelt.

Merkwürdigerweise wurde Mohr vom Untersuchungsausschuss des Parlaments nicht angehört. Dabei kann er wie kein Zweiter die Absurdität des Potsdamer Verwaltungsaktes darstellen. Und der ging so: Statt die Eigentümer der Bodenreformflächen ordentlich zu ermitteln, ließ sich das Land Brandenburg selbst zum „gesetzlichen Vertreter“ der Grundstückseigentümer bestellen. Die Interessen der dadurch „entmündigten“ Landeskinder vertrat Potsdam anschließend dergestalt, dass es seine Bürger enteignete. Danach ließ sich der gesetzliche Vertreter der Entmündigten und Enteigneten als Eigentümer der Grundstücke selbst ins Grundbuch eintragen.

„Das verstärkt die vorhandene Grundstimmung gegen die neue Gesetzgebung“, sagt Robert Schwarz. Der Rechtsanwalt hat die Grundstücke von Margot Steinborn vom Land zurückgefordert. Seine Kanzlei besteht aus einem Zimmer eines kleinen Wohnhauses. Im Allesbrenner knistert ein Holzscheit und ein Lüfter rauscht fröhlich im Computergehäuse. Die meisten „berufsfähigen“ jungen Leute ziehe es fort aus der bevölkerungsarmen Region, sagt er. Unter den übrig gebliebenen Älteren nähmen wegen solcher Fälle die Ressentiments gegen den Rechtsstaat zu. So etwas hätte es früher nicht gegeben, sagten viele, so Schwarz. DDR-Nostalgie mache sich breit.

Margot Steinborn wird ihre Grundstücke zurückbekommen, glaubt ihr Rechtsanwalt. Ein Schreiben der landeseigenen Bodengesellschaft deutet darauf hin. Und das Finanzministerium erklärt, man werde in allen 10 200 Fällen die unrechtmäßigen Eintragungen des Landes in den Grundbüchern korrigieren. Doch so ganz sicher kann man sich in Brandenburg nicht sein. Zuletzt hatten Rechtspfleger der Amtsgerichte in 137 Fällen die Berichtigung der Grundbücher verweigert – dieselben Grundbuchämter, die ohne Zögern die Weisung von oben umgesetzt haben und die rechtmäßigen Erben löschten. Die Enteignungsaffäre ist noch lange nicht ausgestanden.

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