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Brandenburg: Ach, mein Alex

Mark Espiner lebt an diesem Platz, dessen miesen Ruf hat er nie so ganz verstanden. Aber doch: Es hat sich was verändert – und das, glaubt er, hat einen banalen Grund. Ansichten eines Anwohners, der aus London kam

Drei Jahre nach den terroristischen Bombenanschlägen vom 7. Juli 2005, mitten während der Finanzkrise, beschloss ich, London zu verlassen. Im Jahr 2008 schien die Stadt unwiderruflich in einer Spirale aus Paranoia und Gewalt zu versinken. Gedenkstätten am Straßenrand, die täglich anwuchsen mit Blumen und den schmerzlichen Porträts der Teenager, die Opfer einer Messerattacke wurden, schienen jede Woche nur so aus dem Boden zu sprießen. Die Häufigkeit machte sie nicht weniger schockierend. Und als meine damals elfjährige Stieftochter mehrere Jugendliche im Bus dabei beobachtete, wie sie einen anderen mit einem Feuerzeug quälten, fragte ich mich, ob London wirklich noch die Stadt war, in der ich leben wollte.

In Berlin, vermute ich, müssen Sie sich das immer noch erst vorstellen, was so ein Klima an urbaner Gewalt mit einem anrichten kann, und wie es das eigene Verhalten beeinflusst. Man achtet darauf, sich bloß nicht in einen öffentlichen Streit einzumischen, schließlich könnte jede harmlose Auseinandersetzung zu einer gewalttätigen Konfrontation eskalieren. Man sorgt dafür, einer unbekannten Person nicht direkt in die Augen zu sehen, weil jeder Blickkontakt wiederum als Bedrohung aufgefasst werden könnte. Und man vermeidet, mit dem Fahrrad durch bestimmte Gegenden zu radeln – auch wenn es hübsche Fahrradwege entlang eines Flusses sind –, weil dort bestimmte Gruppen von Jugendlichen ihre Kampfhunde gegeneinander aufhetzen, oder weil man davon gehört hat, dass dort Leute mit Steinen beworfen oder vom Rad gestoßen werden.

Auch manche Gegenmaßnahmen bringen nicht unbedingt die gewünschte Lösung: Das Dickicht von Überwachungskameras, die an fast jeder Ecke zu sehen sind, verführt auch dazu, noch mehr soziale Verantwortung an die Behörden abzugeben und trägt verschiedenen Untersuchungen zufolge nur wenig dazu bei, die Kriminalität zu reduzieren.

Im Vergleich zu diesem brutalen Gesicht Londons war Berlins Alexanderplatz wie eine Oase städtischer Ruhe für mich, als ich dort ankam. Der Fernsehturm, die zentrale Riesenstecknadel der Stadt, und die Betonarchitektur schienen beides, Zukunft und Vergangenheit, in sich zu tragen. Es war ein seltsamer Platz. Leer, aber offen. Er umfasste viele Gruppierungen der Stadt: die leuchtend bunt gekleideten Technotänzer, die Goths in ihren Ledertrenchcoats, die Touristen, die Betrunkenen, und natürlich die Punks. Seit drei Jahren lebe ich an diesem Platz. Er ist mein Zuhause. Als ich hierher zog, gab es keinen Hinweis auf Überwachungskameras und kein Gefühl der Bedrohung. Trotz der jüngsten entsetzlichen Geschehnisse fühlt sich das nach wie vor so für mich an.

Ich habe mich immer sicher gefühlt hier, zu jeder Tages- oder Nachtzeit. Deshalb war ich auch überrascht, als mir kürzlich eine meiner Nachbarinnen, die hier schon zu DDR-Zeiten gewohnt hat, erzählte, dass sie es seit dem Fall der Mauer nicht mehr gewagt hat, nachts unbegleitet über den Platz zu gehen und dass der Alexanderplatz im wahrsten Sinne des Wortes vor die Hunde geht. Tatsächlich sehe auch ich, dass sich an diesem Platz in den vergangenen Monaten etwas verändert hat. Die Situation hat sich verschärft, und ich denke, ich kenne den Grund dafür. In New York hat Ex-Bürgermeister Rudolph Giuliani gezeigt, dass an verwahrlosten Orten, die wieder gepflegt werden, auch die Gewalt zurückgeht.

Könnten es die chaotischen und scheinbar endlosen Baustellen sein, die am Alexanderplatz asoziales Verhalten provozieren? Seit die Bauarbeiten an nicht weniger als drei Projekten begannen – was für eine spektakulär unbedachte Art der Planung –, treten die Zeichen für den Niedergang des Platzes offen zutage. Tagging, die schlimmste und egozentrischste Art von Graffiti, tauchte plötzlich an den spitzen Schrägen des Fernsehturmfundaments auf, und große Teile des Platzes werden seither als öffentliche Toilette benutzt.

Ich neige trotzdem dazu, den Alexanderplatz zu verteidigen, wann immer ihn Leute schlechtreden wollen. Zum Teil deshalb, weil ich hier lebe. Aber auch deshalb, weil der Alex nichts mit meinem früheren Heimatkiez Camden in London zu tun hat, der vom Kampf gegen Crack und 381 Gewalttaten im Monat geprägt ist. Was mich aber vor allem optimistisch stimmt, sind die fantastischen Möglichkeiten, die sich hier bieten, das Potenzial, etwas aus diesem einzigartigen und riesigen Platz im Herzen der Stadt zu machen. Wenn die Arbeiten abgeschlossen sind, könnte der Alexanderplatz ein großartiger sozialer Treffpunkt werden, ein europäischer Platz mit Grandeur, an dem man gerne Zeit verbringt, statt nur darüber hinwegzueilen, um zur nächsten Station zu gelangen. Der Beweis dafür ist schon auf der Seite zur Karl-Liebknecht-Straße zu sehen, wo nun die Bänke und Grasflächen zum Verweilen genutzt werden.

Als ich am Dienstag spät nachts nach einem Auslandsaufenthalt nach Berlin zurückkehrte und nahe meiner Wohnung die brennenden Kerzen und bewegenden Briefe an Jonny sah, wurde mir schwer ums Herz. Ich dachte an seine Familie und Freunde. Plötzlich kamen die Erinnerungen an die Schreie der Londoner Opfer von Gewaltattacken in mir hoch, und ich fragte mich, ob das nun auch so in Berlin seinen Lauf nehmen würde. Werden ähnliche Fälle blinder Gewalt folgen? Aber dann sah ich einen Obdachlosen, wie er die Blumen schön herrichtete und die Kerzen, die ausgegangen waren, wieder anzündete. Es war eine sehr bewegende Szene. In den darauffolgenden Tagen taten es ihm viele gleich, Menschen jeden Alters und unterschiedlicher Herkunft kamen, um ihre Trauer auszudrücken und Blumen am Tatort niederzulegen. All das wird Jonny nicht zurückbringen, aber es ist ein Zeichen der Hoffnung, dass der Alexanderplatz kein Ort für Mord und Gewalt ist – es ist ein öffentlicher Platz, der uns allen gehört. Mark Espiner

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