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SPD-Anhänger bei einer Demonstration vor dem Berliner Reichstag

© imago/Emmanuele Contini

Zukunft der SPD: „Deutschland wird von einem Kulturkampf stillgelegt“

Moralisierung, einseitige Fokussierung auf Multikulti und Minderheiten: SPD-Grundsatzreferent Nils Heisterhagen analysiert die Schwächen der Linken in Deutschland. Ein Interview.

Von Hans Monath

Herr Heisterhagen, die SPD hat gerade eine schonungslose Analyse ihres Desasters bei der Bundestagswahl vorgelegt. Sie haben die Partei in ihrem Buch „Die liberale Illusion“ ebenfalls analysiert. Was läuft schief?

Mir geht es nicht nur um die Fehler der SPD, sondern um die Fehler der gesamten Linken. Es reicht nicht, als Linker nur darüber zu reden, wie schlimm die AfD ist. Noch schlimmer aber ist ein Zug vieler Linker, nämlich das Leugnen oder Ignorieren von Problemen. Die Linke muss sich den Problemen stellen, auch denen im Zusammenhang mit Migration und Integration.

Und das ist das größte Problem linker Parteien?

Es ist ein Teil ihrer Schwierigkeiten. Das Grundproblem ist, dass Deutschland gerade von einem Kulturkampf stillgelegt wird, in dem sich Liberale und die Rechten gegenüberstehen. Die gesellschaftlich-politische Polarisierung geht über Werte und Weltbilder. Das stärkt am Ende nur die AfD. Wir müssen zu einer Polarisierung über sozio-ökonomische Interessen kommen. Wir müssen stärker über soziale Ungleichheit und Sicherheit im Wandel der Digitalisierung streiten.

Was stört Sie am Einsatz der SPD für die Gleichstellung von ethnischen, religiösen oder sexuellen Minderheiten?

Ich will nichts vernachlässigen und auch nichts gegeneinander ausspielen. Ich kritisiere nur Übertreibungen eines neuen postmodern geprägten Linksliberalismus – Neigung zu Moralisierung, einseitiger Fokus auf Minderheitenrechte und Multikulturalismus. Ich kritisiere, dass wir zu viel darüber geredet haben und dass zu sehr das linke Bewusstsein bestimmt hat. Ich kritisiere, dass wir das zu sehr ins Schaufenster des politischen Angebots gestellt haben. Und das hat dafür gesorgt, dass viele Menschen die Linke zuletzt als weltfremd wahrgenommen haben.

Das müssen Sie erklären...

Viele nehmen die Linken dann wahr, wenn sie darüber reden, ob irgendwelche Gedichte an Hauswänden sexistisch und rassistisch sind. Sie wirken oft, als hätten sie nur Interesse daran, mit sich und ihrem Weltbild im Reinen zu sein. Rassismus ist eine sehr schlimme Sache. Ich will auch, dass Rassismus weniger wird. Aber Sprache allein rettet die Welt nicht. Wir müssen als Linke wieder ökonomischer denken und uns um die Interessen weiter Teile der Mittelschicht und der kleinen Leute kümmern. Das ist unsere Aufgabe. Wenn wir das nicht tun, wählen die zum Teil Rassisten.

Nils Heisterhagen ist Grundsatzreferent der SPD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz.
Nils Heisterhagen ist Grundsatzreferent der SPD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz.

© promo

Wie sollte die SPD das ändern?

Sie muss wieder mehr Verständnis für die zeigen, die sie repräsentieren will. Auch bei unserer eigentlichen Stammwählerschaft haben wir Vertrauensverlust erlitten. Die sagen: Die SPD, die versteht mich nicht und vertritt nicht meine Interessen. Wenn wir diesen Vorwurf nicht widerlegen können, dann wird die Linke auf absehbare Zeit keine Mehrheiten mehr gewinnen. Auch die Linke braucht Repräsentanten, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. Nur jemand, den man ernst nehmen kann, den kann man auch wählen. Eine selbstgerechte postmoderne Bourgeoisie wollen viele nicht wählen. Denn die Wähler wollen nicht nur belehrt werden. Links-libertäre Bevormundungspolitik funktioniert jedenfalls nicht. Als Linke müssen wir vielmehr „nah bei den Leuten sein“, wie es Kurt Beck mal ausgedrückt hat. Das fängt mit Zuhören und Ernstnehmen an.

Was hat die SPD auf dem Feld der Flüchtlings- und Migrationspolitik falsch gemacht?

Ich kritisiere nicht, dass die Bundesregierung 2015 und später mehr als eine Million Menschen aufgenommen hat. Aber in dieser außergewöhnlichen Aktion sind Fehler passiert, die Mammutaufgabe der Integration wurde danach sträflich unterschätzt. Zu lange haben auch viele Linke in moralistischen Tenor gesagt: Wir haben alles im Griff, und wer hier Zustände kritisiert, ist ein Rassist. Diese Diskurslage hat uns Probleme einbracht. Zu viele Linke neigen immer noch zu moralistischen Übertreibungen.

SPD-Chefin Andrea Nahles versucht nach dem Motto „Realismus ohne Ressentiments“ eine härtere Migrations- und Flüchtlingspolitik durchzusetzen. Ist das schon eine Kurskorrektur?

Ob das eine Kurskorrektur ist, mag ich noch nicht zu beurteilen. Ich halte den „Realismus“ jedenfalls für richtig. Wir brauchen eine Realismuswende und mehr Nüchternheit. Human und realistisch, so sollte Migrations- und Integrationspolitik sein.

Nun sagen SPD-Politiker, wenn sie nicht auch über den Schutz der Meere, über Genderpolitik und über Solidarität mit Flüchtlingen reden, kommen die idealistischen jungen Leute nicht mehr. Würde nicht auch der von Ihnen vorgeschlagene Kurs viele Anhänger und Wähler von der SPD wegtreiben? 

Empirisch stimmt es, dass in Fragen der Gerechtigkeit für Frauen und etwa dem Schutz der Meere mehr getan werden muss. Man sollte nur aufhören immer so aufgekratzt links-libertär zu sein. Ich glaube, dass sich das manche Journalisten und Aktivisten teilweise selbst einreden und damit Stimmung machen. Wir haben ja zum Teil einen regelrechten „Aktivismus-Journalismus“ in Deutschland, wie es der Chefredakteur des „Cicero“, Christoph Schwennicke, zuletzt nannte. Ich glaube nicht, dass das Land so libertär tickt. Die Deutschen sind nicht so aufgekratzt libertär.

Ist aber progressive Politik nicht immer auch emanzipatorische Politik?

Ich verstehe nicht, warum „progressiv“ heute anscheinend nur noch ein Synonym für „liberal“ ist. Ich verstehe nicht, warum die Linken darauf hereinfallen. Weil „vorwärts“ kommen wir gerade nur, wenn wir linke Politik in einem ökonomischen Sinne machen. Die Linke muss zu dem zu einem „universalistischen“ Blickwinkel zurückkommen. Diese postmoderne Liberalität schafft eher mehr Gräben als dass sie vereinigt. Die Postmoderne macht die Vielfalt zunichte, die sie eigentlich preisen will. Emanzipation sollte man daher auch nicht einfach als liberalen Fortschritt definieren. Mit mehr Liberalisierung wird man gerade nicht mehr vorankommen.

Sie wollen einen linkeren Kurs der Sozialdemokraten. Dafür gibt es Vorbilder, etwa die britische Labour-Partei unter Jeremy Corbyn. Warum sollte ein solches Konzept bei den sicherheitsorientierten deutschen Wählern funktionieren?

Die SPD sollte eine Partei der doppelten Sicherheit werden. Soziale und innere Sicherheit. Die Deutschen sind in der Tat sehr auf Sicherheit fokussiert. Genau deswegen kommen ja die links-libertären Umtriebe von Katja Kipping, über Teile der Grünen, SPD und dem liberalen Flügel der CDU, so schlecht an. Der Wunsch nach Sicherheit gehört zur DNA der Deutschen. Deshalb werden linke Parteien mit einem links-libertären Umerziehungsprojekt auch keine Wahl gewinnen. Aber sozialdemokratische Sicherheitspolitik kann ja durchaus links sein.

Wo zum Beispiel?

Etwa beim Arbeitslosengeld 1, das viel zu kurz gezahlt wird. Viele Menschen haben deshalb Angst, nach dem Jobverlust schnell in Hartz IV zu fallen und damit aus ihrer Sicht in die Bodenlosigkeit. Diese Verunsicherung muss man ihnen nehmen. Die SPD sollte die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes 1 verlängern. Daraus kann man ja dann ein neues Arbeitslosengeld Q entwickeln, das jedem Weiterbildung garantiert, auch wenn er älter ist. Von diesem Vorschlag hat man ja auch nichts mehr gehört, obwohl die SPD es im Wahlkampf zunächst als großen Coup verkaufte. Das Thema hat wirklich Potenzial, die SPD sollte es wiederaufnehmen.

Nils Heisterhagen ist Autor des jüngst erschienen Buches „Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen" (Dietz-Verlag): Zudem ist er Grundsatzreferent der SPD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz.

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