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Slogans weg, jetzt wird verhandelt zwischen denen, die man bisher als unmögliche Partnerinnen sah.

© Thilo Schmülgen/Reuters

Zukunft der Demokratie: "25 Prozent sind kein Volkspartei-Ergebnis"

Die Zeit der Großen ist vorbei, alle demokratischen Parteien müssen kooperieren. Das ist gut in pluralen Gesellschaften, sagt Demokratie-Forscher Vehrkamp

Herr Vehrkamp, wenn etwas mehr als 25 Prozent inzwischen für eine Siegerpose genügen – was sagt uns das über die Parteien, die wir als Volksparteien bezeichnen? 

Dass sie eben keine Volksparteien mehr sind. 24 oder 25 Prozent können ja gute Wahlergebnisse sein; es sind aber nicht mehr die Ergebnisse von Volksparteien, die für sich beanspruchen können, die Gesellschaft als Ganzes zu repräsentieren, oder zumindest ihre relevanten Gruppen. Auch das macht die Bundestagswahl 2021 zu einer Zäsur: Das von zwei Volksparteien dominierte Lagersystem ist zu einem mulitpolaren Mehrparteiensystem geworden. Der Trend ist ja schon älter. Aber mit dem Wahlergebnis von Sonntag ist er zu einem gewissen Abschluss gekommen. Und wir sollten das nicht zur nächsten Krise der Demokratie stilisieren, sondern als Chance begreifen. Die Nachkriegsdemokratie hat den beiden alten Volksparteien viel zu verdanken. Sie hatten ihre Zeit. Die ist aber vorbei, und in mancherlei Hinsicht ist das auch gut so. 

Was ist daran gut? Ist es nicht Kern der Demokratie, dass sie echte Alternativen bietet, hier links, dort rechts? 

Das ist das alte Lagermodell, in der Wissenschaft spricht man lieber von Mehrheitsdemokratie. Unsere Gesellschaft lebt, denkt, fühlt und wählt aber schon lange nicht mehr in solchen großgesellschaftlichen Lagern. Und gerade die liberale Demokratie ist dafür ja ein Ermöglicher und Treiber. Die Entwicklung in Deutschland ist dabei sogar eher nachholend und verspätet. Für die Bearbeitung politischer Konflikte in ausdifferenzierten, stark individualisierten und immer vielfältigeren Gesellschaften ist die Lagerdemokratie jedenfalls nicht mehr die zeitgemäße demokratische Form. 

Weshalb? 

Schauen Sie in die Länder, die derzeit Probleme mit ihrer Demokratie haben: die USA, Großbritannien, auch Ungarn oder Polen, selbst Frankreich könnte man hier nennen. Deren mehrheitsdemokratische Systeme oder Systemelemente verschärfen gesellschaftliche Spaltungen eher, als sie zu bearbeiten. Ein konsensdemokratisches Mehrparteiensystem eignet sich viel besser, um Politik für unsere pluralistischen, individualisierten und segmentierten Gesellschaften zu gestalten. Sie folgen aber anderen Spielregeln. Und die müssen erlernt werden. Das erleben wir gerade. 

Alle können mit allen, und ich als Bürgerin kann nur noch darüber entscheiden, wie stark der Einfluss der von mir bevorzugten Politik in einer ewig gleichen Koalition aller oder fast aller wird? 

Warum “nur”? Wir wählen Parteien mit ihren Programmen und Personen. Dass die daraus bisher nur entweder Lagerkoalitionen oder GroKos gemacht haben, zeigt eher, wie schwer sich die Parteien mit dem Wandel tun. Wie sehr sie im alten Lagerdenken verharren. Die Ära Merkel ist auch die Ära verpasster Koalitionschancen. Weder Schwarz-grün oder Jamaika, noch Rot-rot-grün hat man im Bund hinbekommen. Die Länder sind da viel weiter. Aber auch in Thüringen lässt sich bis heute besichtigen, wie das Lagerdenken politische Gestaltung lähmt und blockiert: Die Parteien und ihre Akteure müssen ihr Verhalten an die neue Zeit anpassen. Das wird nicht einfach, ist aber eine Chance für bessere Politik. 

Sie plädieren schon länger dafür, dass die einst großen Parteien aufhören sollten, von früheren Mehrheiten und ihrer Vergangenheit als Volksparteien zu träumen, um sich auf die neuen Realitäten besser einzustellen. Was würde sich für die Demokratie verbessern – außer der Realismus der Beteiligten? 

Die Parteien könnten ihre Profile schärfen. Eigene Markenkerne entwickeln, und Unterscheidbarkeit erzeugen. Aber nicht entlang veralteter Lagergrenzen, sondern zur Abbildung der neuen gesellschaftlichen Vielfalt. Und verbunden mit Konsens und Kooperation im Regierungshandeln. Das Regieren mit starren Mehrheiten in Lagern verhindert Politik, anstatt sie zu ermöglichen. Auch hier müssen neue Spielregeln und Verhaltensweisen erlernt werden. Wie mühsam das ist, erleben wir gerade. Und “Scheitern ist dabei keine Option”, hat Robert Habeck gestern gesagt. Damit hat er Recht. 

Schärfere Konturen, aber dennoch sollen alle miteinander können? Widerspricht sich das nicht? 

Gar nicht. FDP und Grüne üben das ja gerade. Die Grünen haben ihren Markenkern in der Klima- und Gesellschaftspolitik, und die FDP sieht sich vor allem als Treiber wirtschaftlicher Modernisierung und Innovation. Daraus kann doch deutlich mehr entstehen als fantasieloses Abbilden vorhandener Schnittmengen oder die Aufsummieren kleinster gemeinsamer Nenner. Beide Parteien bemühen sich, das Konzept und den Begriff der Freiheit zeitgemäß zu interpretieren. Wenn das keine Chance ist! Zumal auch ihre Wählermilieus inzwischen viel ähnlicher sind, als die zunehmend diffusen Milieus der alten Volksparteien. 

Die auch einmal Milieuparteien waren. 

Ja, nur das ihre Milieus immer kleiner, älter und unkonturierter werden. Und in den neuen Milieus sind Union und SPD viel weniger verankert als beispielsweise FDP und Grüne. Ihre Selbstbeschreibung und ihr Selbstverständnis als Volksparteien ist längst zu einer Modernisierungsbremse geworden. Und der Differenzierungsprozess des Parteiensystem ist ja noch nicht zu Ende. Darauf haben die alten Volksparteien bislang noch keine Antwort gefunden.

Robert Vehrkamp leitet das Programm "Zukunft der Demokratie" bei der Bertelsmann-Stiftung.
Robert Vehrkamp leitet das Programm "Zukunft der Demokratie" bei der Bertelsmann-Stiftung.

© Thomas Kunsch/Bertelsmann-Stiftung

Noch einmal zur Mehrheitsdemokratie. Sind politische Lager nicht auch Grund, wählen zu gehen? 

Polarisierung im Wahlkampf kann mobilisieren, aber das gilt ja auch für Mehrparteiensysteme. Und unterstellen wir doch den Wähler:innen keine einfache Schwarz-Weiß-Logik. Es gibt doch immer mehr Wechsel- und immer weniger Stammwähler:innen. Die Leute sehen sich an, was die Parteien anbieten, und entscheiden dann, was sie wollen, was zu ihnen passt, was sie, von Wahl zu Wahl, für das Richtige halten. Und sie wünschen sich, dass die Parteien nach der Wahl auch lagerübergreifend zusammenarbeiten. Dazu passt ein kooperationsfähiges Parteiensystem. Bisher sind die Parteien viel zu fantasielos mit diesem Wandel umgegangen. Das Wahlergebnis zwingt sie nun umzulernen. Ich hoffe, das gelingt, sonst wachen wir nach monatelangen Verhandlungen am Ende doch wieder in einer GroKo auf. Das kann eigentlich niemand wollen. 

Eine letzte Frage: Briefwahl für alle – dafür plädieren Sie schon länger. Briefwahl auf Antrag vertiefe die soziale Spaltung, meinen Sie. Hat das Berliner Chaos an den Wahlurnen am Sonntag Sie bestärkt? 

Ganz unabhängig von Berlin: Ich glaube, wir brauchen ganz dringend eine Verständigung über die Briefwahl. Wenn der Briefwahlanteil diesmal bei um die 50 Prozent liegt, stellt das den Grundcharakter der Wahl als Urnenwahl infrage. Aber anstatt die Briefwahl zu verteufeln, sollten wir sie noch sicherer und vor allem sozial inklusiver machen. Derzeit wirkt die Briefwahl noch immer sozial selektiv. Das könnten wir durch einen automatischen Versand der Briefwahlunterlagen vermeiden. Aber dafür brauchen wir einen gesellschaftlichen Konsens und die Akzeptanz der Briefwahl als gleichwertige Alternative zur Urnenwahl. Und auch die Urnenwahl könnte modernisiert werden. 

Wie zum Beispiel?

Indem wir jeder Wähler:in ermöglichen, in jedem Wahllokal in Deutschland zu wählen. Dafür wäre ein bundesweit digitalisiertes Wählerverzeichnis eine Voraussetzung.

Aber auch Sie haben ja Kritik an der Briefwahl. 

Nur daran, dass sie beantragt werden muss. Die Beantragungspflicht ist eine Hemmschwelle. Nicht für gebildetere, wohlhabendere und politisch besonders interessierte Menschen. Aber in den politische weniger interessierten und sozial benachteiligten Nichtwählermilieus ist das eine Hürde, verringert die ohnehin deutlich geringere Wahlbeteiligung und verschärft so die soziale Spaltung. Kämen die Briefwahlunterlagen unaufgefordert per Post mit der Wahlbenachrichtigung, würde das die Wahlbeteiligung erhöhen und ihre soziale Spaltung verringern. 

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Dagegen gibt es seit langem Widerstand. 

Und deshalb brauchen wir eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir in Zukunft zeitgemäß wählen wollen. Dafür ist der pandemiebedingte Anstieg der Briefwahl eine echte Chance. Diskutieren wir offen die Vor- und Nachteile, die Bedenken und Chancen. Die Akzeptanz und das Vertrauen in die Wahlverfahren sind ein sehr hohes Gut in der Demokratie. Deshalb verbieten sich dabei Schnellschüsse. Aber die Diskussion über eine zeitgemäßere Wahlorganisation sollten wir führen.

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