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Union Jack und Europa-Flaggen in Brüssel.

© dpa

YouGov-Chef Stephan Shakespeare über das Brexit-Referendum: "Ich erwarte, dass die EU-Befürworter siegen"

Der einflussreiche Meinungsforscher Stephan Shakespeare über Umfrageschwankungen in Großbritannien, den Faktor Angst und die Zukunft von David Cameron und Boris Johnson.

In gut drei Wochen stimmen die Briten darüber ab, ob sie in der Europäischen Union bleiben oder nicht. Seit Wochen gehen die Meinungen auf der Insel hin und her. Die Umfragen schwanken stark: Einige sehen einen klaren Sieg der EU-Befürworter, andere zeigen einen Vorsprung des Brexit-Lagers an. Stephan Shakespeare ist Gründer und Chef des Umfrage-Instituts YouGov, eines Pioniers der Online-Befragung. Der 59-jährige gebürtige Deutsche gilt als einer der einflussreichsten Meinungsforscher Großbritanniens. In Berlin traf er sich mit dem Tagesspiegel für ein Interview.

Mr. Shakespeare, Sie messen in Umfragen die Stimmung der Briten zum Brexit. Der "Guardian" hat sie einmal als den Mann bezeichnet, der immer richtig liegt. Wie ist denn Ihre persönliche Meinung, wie es ausgehen wird:  Bleiben oder gehen?

Ich gehe davon aus, dass das Referendum am 23. Juni mit einem Votum für den Verbleib in der Europäischen Union enden wird. Ich sage das etwas zögerlich, weil die Umfragen derzeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen signalisieren. Umfragen geben jedoch die aktuelle Stimmung wieder, sie sind keine Prognose des Ausgangs. Zwei Erfahrungen vor allem bringen mich zu meiner Ansicht, dass „Remain“ siegen wird. Zum einen neigen viele Leute am Ende doch stärker zur Linie der Regierung als Wochen oder Monate vor der Abstimmung. Und Premier David Cameron wirbt für den Verbleib. Zum anderen gibt es immer einen Schwung Richtung Status quo zum Ende einer Kampagne hin. Wir haben das zuletzt ja auch beim Unabhängigkeitsreferendum in Schottland gesehen, als lange Zeit ein knappes Ergebnis angezeigt war, schließlich jedoch deutlich mehr als die Hälfte für den Verbleib im Königreich stimmte. Die Wähler werden nervös, je näher eine Entscheidung für oder gegen eine Wende rückt. Und beim EU-Referendum geht es ja um ein großes Thema mit sehr langfristiger Wirkung.

Stephan Shakespeare, Chef von YouGov.
Stephan Shakespeare, Chef von YouGov.

© YouGov

Eine Erhebung für den „Daily Telegraph“ ergab am Dienstag 51 Prozent für das Bleiben, 46 Prozent für den Austritt – die Unentschiedenen nicht mitgezählt. In der Woche davor waren es 55 Prozent für „Stay“ und 42 Prozent für „Leave“. Im März noch lagen die Austrittsbefürworter vorn. Auch andere Institute messen solche Unterschiede. Woran liegt es denn, dass die Umfrageresultate in Großbritannien so massiv schwanken?

Möglicherweise daran, dass die Stimmung vor Volksabstimmungen schwerer zu erfassen ist als bei Parlamentswahlen, wo die Parteiausrichtung schon eher klar ist. YouGov hat zuletzt 42 zu 40 für den Verbleib gemessen, mit 13 Prozent Unentschiedenen. Die neueste Umfrage zeigt ein Patt mit 40 zu 40. 20 Prozent wissen nicht, ob oder wie sie abstimmen wollen. Wir glauben, dass unsere reinen Online-Befragungen näher an der tatsächlichen Stimmung liegen als diejenigen der Institute, die Telefonumfragen machen. Es hat sich zum Beispiel gezeigt, dass bei Telefonumfragen der Anteil von besser Gebildeten höher ist. Diese neigen aber stärker zum Pro-EU-Lager. Unser Online-Sample, so glaube ich, bildet die Bevölkerung besser ab.

Es gibt den Effekt, dass manche Menschen in Befragungen nicht ganz mit der Wahrheit herausrücken. Könnte es sein, dass einige Brexit-Befürworter ihre Haltung verschweigen?

Das ist in Telefonumfragen gut möglich, weil man dem Fragesteller nicht direkt antworten will. In Online-Umfragen ist das eigentlich ausgeschlossen.

Bisher ging es in der Debatte vor allem um wirtschaftliche Argumente, um die ökonomischen Folgen eines Brexits. Nun kommt das Thema Einwanderung stärker in den Fokus, weil das Lager der EU-Gegner diese Karte gezogen hat. Könnte das Ergebnis dadurch beeinflusst werden?

Es hat auf der Seite der EU-Befürworter eine massive Anstrengung gegeben, wirtschaftliche Nachteile eines Austritts zu betonen. Die Regierung arbeitete vor allem mit ökonomischen Argumenten, auch viele Wirtschaftsverbände, ebenso internationale Organisationen, zuletzt der G-7-Gipfel. Das hat Eindruck gemacht, und die Brexit-Befürworter waren nicht in der Lage, dagegen eine wirksame, überzeugende Verteidigung aufzubauen. Nun wechseln sie das Thema und ziehen die Einwanderung nach oben auf die Agenda.  Das ist eine echte Chance für die EU-Gegner, aber nur, wenn quasi-ökonomische Fragen damit verbunden werden: Was heißt es, wenn Einwanderer die sozialen Dienstleistungen nutzen? Was bedeutet Immigration für den Nationalen Gesundheitsdienst? Was für den Wohnungsmarkt? Solche Fragen stellen sich eher ältere Bürger, die nicht mehr arbeiten, aber stärker von staatlichen Leistungen abhängen. Ältere neigen ohnehin eher zum Brexit. Auch Ärmere sind gegen die EU. Diesen sagen die Austrittsbefürworter nun, dass das Geld, das man nicht mehr an die EU geben muss, für sie eingesetzt werden könne.

Wie stark ist der Unterschied zwischen Älteren und Jüngeren?

Sehr groß. Die Jungen sind zu zwei Dritteln für den Verbleib in der EU, die Älteren im Verhältnis zwei zu eins dagegen. Jüngere freilich gehen weniger zur Wahl, die Älteren sind da verlässlicher. Das ist Anlass zur Sorge im „Remain-Camp“. Andererseits sind die Wohlhabenderen eher bei den EU-Anhängern, und diese Gruppe beteiligt sich wiederum stärker an Abstimmungen als die Ärmeren.

Spielt die Angst vor Veränderung eine Rolle, wenn die Briten am Tag des Referendums ihr Kreuzchen machen?

Aus der Wissenschaft weiß man, dass Angst ein ganz entscheidender Faktor ist. Auch hier spielt wieder herein, dass Menschen eher zum Bestehenden tendieren, als dass sie sich auf etwas Neues einlassen. Besonders in einer Kampagne vor einem Referendum wird versucht, Ängste in der Bevölkerung wachzurufen. Das Pro-EU-Lager hat deshalb vor Augen geführt, was alles auf dem Spiel steht: Im Fall eines Austritts könnten Arbeitsplätze wegfallen, die Inflation und Immobilienpreise könnten hochschnellen. Als Blindgänger erwies sich das Argument des Pro-EU-Lagers, dass bei einem Austritt die Kriegsgefahr zunehmen könne. Das haben die Leute als Bevormundung empfunden.

 Und im Pro-Brexit-Lager hat Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson die Einflussnahme der EU  mit Hitlers kontinentalen Machtansprüchen verglichen.

Auch das kam in der Bevölkerung als Lächerlichkeit an.

 Werden wir in den kommenden Wochen noch einen schmutzigen Wahlkampf erleben?

Ich erwarte, dass das Spiel mit den Ängsten noch zunehmen  wird. Ich kann mir vorstellen, dass die „Leave“-Kampagne dem Pro-EU-Lager ihr eigenes „Projekt Angst“ entgegensetzen wird. Bislang ist ihnen das noch nicht gelungen. Aber man kann davon ausgehen, dass das Brexit-Lager demnächst mit Schlagworten kommen wird wie: Europa ist ein sinkendes Schiff, Europa ist unsicher und wird wegen der zu erwartenden politischen Integration nicht mehr so bleiben, wie es derzeit ist.

 Welche Rolle spielen einzelne Politiker? Geht es um einen politischen Zweikampf zwischen Premierminister Cameron als EU-Befürworter und seinem innerparteilichen Widersacher Boris Johnson, der die Galionsfigur des Brexit-Lagers ist?

Boris Johnson vertritt nicht nur die Anhänger eines „Little England“, die sich nach den alten Zeiten zurücksehnen. Er steht auch für die urbane und weltoffene Seite der Konservativen. Auf der Seite der Brexit-Befürworter hat er aber nicht allein das Sagen. Auch der Chef der Ukip-Partei, Nigel Farage, spielt eine wichtige Rolle –  weil er eine sehr wichtige Minderheit vertritt, auf die Verlass ist. Das Pro-EU-Lager verfügt hingegen über die mächtigste Stimme überhaupt, nämlich die des Premierministers. Es gehört für einen Wähler schon sehr viel Überwindung dazu, wenn er sich dazu entschließt, gewissermaßen gegen den eigenen Regierungschef zu stimmen. Allerdings hat es auch einen Nachteil, dass sich das Pro-EU-Lager nur auf die Stimme Camerons verlässt: Im Verlauf der Kampagne haben sich die Umfragewerte, die das Vertrauen der Bürger in ihren Premierminister anzeigen, halbiert. Der Wert ist auf 19 Prozent gesunken.

 Kann Cameron Premierminister bleiben, wenn das Brexit-Lager am 23. Juni gewinnen sollte?

Wenn es zu einer Entscheidung für den Brexit kommt, dann ist es nur schwer vorstellbar, dass er bleibt. Wenn das „Remain“-Lager nur einen knappen Sieg erringt, dann wird sich der interne Streit bei den Konservativen über die EU noch weiter verschärfen. Schon jetzt verstehen viele Konservative nicht, dass sich ihr Parteivorsitzender mit so viel Energie auf einen Kurs festgelegt hat, den sie für falsch halten.

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