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Flagge zeigen - allein mit dem blauen Sternenbanner ginge das auch.

© imago

Krisen und Kaiserreichsjubiläum: Wozu noch Nationalstaaten?

Die Idee ist beliebt, aber unnütz - Nationen haben sich überlebt. Ein Plädoyer für ein Europa von unten.

Mitten in der soeben beendeten Regierungskrise in Italien rechneten die Journalistinnen Milena Gabanelli und Simona Ravizza im „Corriere della sera“ die Kosten der vielen Regierungsstürze in 75 Jahren Republik aus. Bis zu fünf Monate lang sei die Politik gelähmt, jeweils 1000 Posten müssten jeweils umbesetzt werden – mit all den Reibungsverlusten, die das auch für die Zeit danach noch bedeutet.
Man könnte fragen: Wozu das alles? Ausgerechnet die Verteilung der europäischen Corona-Milliarden lieferte im Januar den Anlass - der tiefere Grund war banaler - zum Bruch der Regierung Conte. Das viele Geld wurde in Brüssel eingesammelt und sollte idealerweise in der europäischen Fläche ankommen, in Italien und anderswo, in Krankenhäusern und Gesundheitsnetzen, in Projekten für digitale und grüne Infrastruktur, bei Unternehmen und Haushalten. Braucht es dafür Rom, braucht es dafür europäische Hauptstädte?
Die Frage zielt ebenso wenig Richtung Italien-Bashing wie auf Demokratieverachtung. Im Gegenteil. Es geht aber darum, ökonomisch gesprochen, wie viel Zwischenhandel die demokratische Wertschöpfungskette braucht beziehungsweise welche Teile davon ihr eher schaden, nicht nur in Südeuropa. Und da sieht die nationale Ebene, nüchtern betrachtet und ohne den Hurra-Patriotismus der Brexiters und anderer Exiters, ziemlich alt aus.

Die wirklich dunkle Macht sind die nationalen Hauptstädte

Sie ist in den 64 Jahren seit den Römischen Verträgen, dem Gründungsakt des einen Europa, immer mehr zu einer Parallelstruktur geworden, die Kraft des Alten, die mit dem Neuen immer wieder in den Clinch geht. Die Konflikte zwischen deutschem Verfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof liefern ebenso Beispiele wie die zahllosen Fälle, in denen die Hauptstädte Vorgaben aus Brüssel und Straßburg einfach ignorieren. Europa hat eine demokratische Vertretung seiner Bürgerinnen und Bürger, das Europäische Parlament, aber nicht nur wird das leider immer noch nicht überall nach den gleichen Prinzipien gewählt.

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Es wird auch von einer keineswegs demokratisch legitimierten Bürokratie sehr effektiv ausgebremst – und das sind nicht irgendwelche Technokratinnen und Technokraten der gern beschworenen Dunkelmacht Brüssel. Sie sind vielmehr nationale Beamte und dienen nicht dem europäischen Souverän, sondern vertreten, im Dienste der nationalen Regierungen, vorgeblich nationale Interessen. Was immer das sein soll. Die deutsche Autoindustrie zum Beispiel dürfte bestenfalls die Interessen eines Teils der Deutschen vertreten.

Nationen brauchten und brauchen bis heute Abgrenzung

Das Jahr 2021, der 150. Jahrestag der ersten deutschen Einheit im Bismarckstaat, ist, jedenfalls hierzulande, ein gutes Datum, um über den Abschied vom Nationalstaat nachzudenken. Schon 1870/71 brauchte er einen Krieg als Geburtshelfer. Ständige Ausgrenzungskriege gegen vermeintliche und tatsächliche Gegnerinnen im Innern folgten: gegen die Arbeiterbewegung, die polnischen Untertanen, die Katholiken, schließlich die Juden. Kein deutsches Spezifikum.

Es ist das Elend des Einheitsstaats von Myanmar über die Türkei bis zu den Ländern Europas, dass er sich, demokratisch verfasst oder nicht, darüber definiert, wer nicht dazugehört. Und das Herausdefinierte bekämpft, mehr oder weniger blutig. Wenn Deutschland am Ende dieser Woche der rassistischen Morde von Hanau gedenkt, wird wieder sichtbar werden, dass das Gespenst der Nation und des Nationalismus, gerade mal gute 200 Jahre alt, bis heute nicht friedlich geworden ist. Zwingen wir es also demnächst in den Ruhestand und bauen an einem Europa der Regionen und Kommunen. Fürs große Ganze gibt es die gemeinsame Hauptstadt. Die müsste sicher etwas anders arbeiten als heute. Aber Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut. Ebensowenig wie Berlin, Paris und Madrid.

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