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In Bierzelten südlich des Mains wird in der Regel Bayerisch gesprochen - aber welches Bayerisch?

© Imago stock&people

Wörterbuch der Bayerischen Sprache: F wie Fotzenspangler

Seit 1911 arbeiten Sprachforscher in München am Bayerischen Wörterbuch. 2060 soll es fertig sein – und viel mehr bewahren als nur einen Dialekt.

Schon wieder ein Band fertig. Das passiert höchstens alle sieben Jahre. Es ist dann, als fiele das Gewicht der Welt von den Schultern der Mitarbeiter. Sogar die schwarzen und grünen Zettelkästen atmen auf. Wieder 10 000 ultimativ erforschte Vokabeln. 1884 Spalten. Das Jahrhundertprojekt, nein, das Zwei-Jahrhunderte-Projekt des Bayerischen Wörterbuchs ist soeben beim Buchstaben D angekommen! 1911 haben sie angefangen.

D? Damit kann das Bayerische Wörterbuch den Vorsprung des Schweizer Wörterbuchs voraussichtlich nicht mehr aufholen, denn beim „Idiotikon“ – so heißt das – sind sie schon beim Buchstaben „Z“. Und wenn die Schweizer ungemein fleißig sind, könnten sie schon in zehn Jahren fertig sein. In den Augen der Projektleiterin des Bayerischen Wörterbuchs Andrea Schamberger-Hirt erscheint eine leise Skepsis, denn sie weiß: Hast und Eile sind zwei große Feinde der Wissenschaft.

Ihr Lebenswerk wird frühestens 2060 abgeschlossen sein, vielleicht wird sie das gar nicht mehr erleben, aber diese Aussicht gibt ihr Zuversicht: Da ist etwas, das wird noch sein, wenn ich nicht mehr sein werde. Und es reicht weit, weit zurück in die Vergangenheit.

Im zweiten Stock des schönen Hauses der Bayerischen Akademie der Wissenschaften schweigen die Folianten in den Regalen, Andrea Schamberger-Hirt ist erst hier ganz bei sich. Ihren viereinhalb Kollegen geht es genauso. Der fünfte hat nur eine halbe Stelle. Es ist eine Welt aus Stille und Konzentration. In solchem Extremklima kann nicht jeder existieren. Und wozu, fragen jene, die es hier keine Stunde aushielten, braucht die Welt ein bayerisches Wörterbuch?

Ist es nicht genug, wenn ich weiß, dass ich beim Oktoberfest eine Mass und nicht eine Maaaaß bestellen muss? Stürzt die Welt ein, wenn ich „Himmelherrgottsakramentpfuideifescheissglumpvarreckts“ nicht korrekt übersetzen kann? Bei Erkundigungen wie diesen erwacht in den Tiefen der bedächtigen Wortfachfrau ein großes Temperament.

Hochdeutsch - ein verarmtes Idiom

„Die Sprache verbindet uns mit unseren Vorfahren.“ Andrea Schamberger-Hirt rammt diesen Satz mit größtmöglicher Sanftheit in die Tischplatte. Wahrscheinlich denkt sie jetzt nicht an ihre Großeltern, sondern an die ersten Dableiber kurz nach der Völkerwanderung. Aber welche Sprache? Was wir „Deutsch“ nennen, nennt sie mit leiser, aber deutlicher Herablassung nur „die Standardsprache“. Also ein schon verarmtes, künstliches, normiertes Idiom, gezähmt, dressiert, zuerst von Kanzleien, später von Linguistikprofessoren.

Auch Andrea Schamberger-Hirt, geboren in Fürstenfeldbruck, benutzt jetzt dieses Rückbildungs-Idiom, um für den Besuch verständlich zu bleiben. Doch wie viel mehr ließe sich sagen, spräche sie jetzt Nordbairisch, Ostmittelbairisch oder Südbairisch. Natürlich muss sie auch Unterostfränkisch verstehen oder Niederalemannisch, denn auch das wird im Freistaat gesprochen.

Als ob die Sprache plötzlich einen Körper hätte

Und plötzlich schießen eine ganze Gefühlswelt, Arbeitswelt, Sonne, Mond und Sterne in die Sprache ein. Es ist, als ob sie ein Geschlecht bekäme, Leidenschaften, Sorgen, Sehnsüchte, Hoffnungen. Als ob die Sprache plötzlich einen Körper hätte, eine richtige Physis. Und immer eine sehr volkshafte.

Der Buchstabe D also. Ja, sie haben noch viel vor. Mit dem Österreichischen Wörterbuch steht es etwas anders. Man hätte zusammenarbeiten können, schließlich sprechen die Österreicher auch Bairisch in allen Färbungen. Mag sein, in Wien fanden sie den Namen ihrer Nationalsprache schon immer unpassend. Das Wienerische, also eine ganze Weltanschauung, bloß ein ostmittelbairischer Dialekt? Wie herabstimmend.

Und darum haben die Wiener zu den Münchnern gesagt: Ihr seid uns viel zu langsam, wir machen das mal allein! Weshalb die Österreicher auch schon beim „E“ sind, allerdings haben sie vor zwei Jahren wieder aufgehört. Wegen unüberbrückbarer innerredaktioneller und außerredaktioneller Differenzen.

Andrea Schamberger-Hirt, Leiterin des Wörterbuch-Projekts, freut sich jedes Mal, wenn sie mit der Bahn von München nach Passau fährt: Dann färbt sich die Sprache der Leute immer mehr.
Andrea Schamberger-Hirt, Leiterin des Wörterbuch-Projekts, freut sich jedes Mal, wenn sie mit der Bahn von München nach Passau fährt: Dann färbt sich die Sprache der Leute immer mehr.

© J. Amendt/BAdW

Andrea Schamberger-Hirt weiß nur zu gut um den Risikofaktor Mensch in einer Wörterbuch-Edition. „Bei uns hat es auch erst mit Anthony Rowley richtig angefangen“, sagt sie, und eine unbegrenzte Dankbarkeit schwingt in ihrer Stimme. Wo wären sie ohne Rowley? Wahrscheinlich immer noch beim A.

Anthony Rowley ist ihr Vorgänger. Rowley. Der Name qualifiziert nicht unbedingt zum Chefherausgeber eines bayerischen Wörterbuchs, und Rowley hat auch nie geleugnet, dass er bei Manchester geboren wurde. Aber er hat Deutsch in der Schule gelernt! Und nach seinem Sprachstudium ein Auslandssemester in Regensburg absolviert. Der Brite wurde mit einer Arbeit über den bayerischen Dialekt im trentinischen Fersental promoviert. Der Professor konnte am besten erklären, warum die Wahl auf ihn fiel. Wahrscheinlich habe die Kommission gedacht: „Hauptsach’, es is koa Preiß!“

"Sau-Preiß" ist gar nicht böse gemeint

Der Preiß ist der Preuße, näherhin der Berliner. Doch eigentlich sagt kein Bayer Preiß, es heißt Sau-Preiß. Die Bayern legen aber Wert auf die Feststellung, dass es sich bei Sau-Preiß nicht um eine ausländerfeindliche Anrede handelt, sondern um eine nüchtern-zusammenfassende Bezeichnung für Leute, die jenseits des Weißwurschtäquators geboren wurden und darum der Landessprache nicht mächtig sind. Seltsam ist bloß, dass unlängst ein Autofahrer den Fahrer eines Muldenkippers angezeigt hatte. Nicht so sehr, weil der Muldenkipper-Mann gegen dessen Fahrertür schlug zum Zeichen der Missbilligung seines Fahrverhaltens. Nein, schlimmer, er habe ihn Preiß genannt, ihn, einen Niederbayern.

Der neue dritte Band des Bayerischen Wörterbuchs reicht von „Prä“ bis „Törmisch“. Törmisch heißt schwindlig. Was machen Worte, die mit P und T anfangen, in einem Wörterbuch, das gerade den Buchstaben „D“ erreicht hat? Das ist ganz einfach.

Es ist viel besser, viel erotischer, Buchstaben zu behauchen

Lassen wir das „Sau“ weg, und nehmen nur den Preiß. Kommt eigentlich weiter hinten im Alphabet. Aber kein Bayer sagt Preiß, er sagt Braiss. Das klingt weniger militant. Und der Preuße rückt vor im Alphabet, wie alle Wörter mit p und t. Insofern ist das Bayerische Wörterbuch schon sehr viel weiter fortgeschritten, als der Buchstabe „D“ suggeriert. Und das wiederum liegt an der Aspirierung, erklärt Andrea Schamberger-Hirt.

Aspirare, lateinisch, Luft aushauchen. Aus dem B wird ein P erst durch das entschiedenere Hauchgeräusch nach dem durch geschlossene Lippen gebildeten Laut. Es handelt sich beim gewöhnlichen „P“ also um eine Art linguistischen preußischen Stechschritt. Den haben die Bayern schon immer verweigert.

Wer nur Hochdeutsch spricht, lebt der überhaupt?

Es ist ohnehin viel besser, viel erotischer auch, Buchstaben zu behauchen. Die Mitarbeiter des Bayerischen Wörterbuchs sind große Haucher. Man könnte der Projektleiterin des Bayerischen Wörterbuchs stundenlang dabei zuhören. Was für ein Kosmos! Wer nur Hochdeutsch spricht, lebt der überhaupt?

Ein guter Wörterbuchartikel stellt kürzestmöglich-allumfassend eine Vokabel in ihrer historischen Tiefe und dialektalen Breite dar, sagt Andrea Schamberger-Hirt. Das erste Wort im neuen Band hat sie geschrieben, es ist das „Prä“. Eine nur sehr bedingt bayerische Vokabel, das „brä“ also. Wie Prä-sident. Prä-sidium. Die lateinische Vorsilbe verweist auf Leute, die grundsätzlich woanders sitzen wollen als der Rest, auf Vornsitzer aller Art. Und eben darum hat der Geist der bayerischen Sprache in der Vorsilbe „prä“ ein eigenständiges Wort erkannt.

Es bezeichnet einen „stolzen eingebildeten Menschen“. Und der „Prächter“ ist ein Vielredner, ein Schwätzer. Es ist bemerkenswert, wie viele Worte die Bayern für diesen Typus Mensch kennen: Großkopfada. Zipfelklatscher. Wenn sie beim Wörterbuch eine Spezies ganz und gar nicht brauchen können, dann sind das Prächter, Großkopfade und Zipfelklatscher.

In den nächsten 50 Jahren soll die Bayerische Sprache vollständig erfasst werden.
In den nächsten 50 Jahren soll die Bayerische Sprache vollständig erfasst werden.

© Imago/Michael Westermann

Sollte man von einem gewissen Vorbehalt der Volkssprache gegenüber Leuten ausgehen, die mehr reden als arbeiten? Und das schlagendste Beispiel ist dabei noch gar nicht erwähnt. Ein keineswegs charmant gemeintes Wort mit F für den weiblichen Unterleib ist zugleich Bezeichnung für ein loses Mundwerk. Höchstwahrscheinlich ist „Mund“ im Bairischen sogar die Primärbedeutung. Wer bitte würde sonst mit größter Unbefangenheit zum „Fotzenspangler“ gehen?

Wenn der so titulierte Kieferorthopäde allerdings ein Isar-Preiß ist, kann das zu Komplikationen führen. Die Bayern beschreiben die möglichen Eskalationsstufen so: Glei foid da Wadschnbam um. Worauf der kieferorthopädisch behandlungsbedürftige Bayer fragen könnte, woher dieser Fotzenspangler eigentlich das Recht nehme, ihm „eine Fotzen“ zu geben. Das ist die Ohrfeige.

Beim "F" ist das Bayerische Wörterbuch noch lange nicht

Und Mundharmonikaspieler in großstädtischen Fußgängerzonen sollten möglichst gelassen reagieren, wenn man sie „Fotzhobel“ antitelt. Das ist keine Kritik ihrer musikalischen Darbietung, sondern die korrekte sprachliche Bezeichnung ihres Berufsbildes. Aber noch weiß das niemand ganz genau, denn beim „F“ ist das Bayerische Wörterbuch noch lange nicht.

Niemand wird bestreiten, das sich unsere Weltbegriffe weiten, je tiefer wir in die Urgründe unserer Sprache, unserer Sprachen vordringen. Auch das ist Archäologie. Im zweiten Band des Wörterbuchs hat Rowley das Wort „Bier“ analysiert. Die Inuit mögen 100 Worte für Schnee haben, aber die Bayern haben mehr als 100 für Bier, denn jedes Volk muss Prioritäten setzen. Plempel ist abgestandenes Restbier, genau wie das Noagerl. Und Wissenschaft beginnt dort, wo die Differenzen zwischen beiden exakt bestimmt werden müssen.

Verstorbene Worte sind besonders anrührend

Rowleys Nachfolgerin ist gerade bei „dran“, drehen angelangt. Seit Falco sang: „Drah’ di net um, oh oh oh / Schau, schau, der Kommissar geht um, oh oh oh“, ist dieses Wort in die Allgemeinsprache eingewandert. Aber was heißt: „Den Girgl hods draht“. – ? Hochdeutsch: Der Girgl ist sanft entschlafen. Allein 487 Treffer zeigt der Computerbildschirm für „dran“, dazu kommen noch vier Kästen mit jeweils 300 Zetteln. Doch Andrea Schamberger-Hirt wirkt zuversichtlich.

Besonders anrührend sind die Worte mit einem Kreuz dahinter. Verstorbene Worte wie Präbende (Pfründe). Ein Wort stirbt genau dann, wenn es niemand mehr gebraucht. In den großen Städten Bayerns schwindet der Dialekt, noch schneller als auf dem Land. Die Leiterin des Bayerischen Wörterbuches freut sich jedes Mal, wenn sie mit der Regionalbahn von München Richtung Passau fährt: Dann färbt sich die Sprache der Leute von Station zu Station mehr, wird erdhafter, himmelhafter auch.

Dialekte und Mobilität passen nicht zusammen

Dass Dialekte falsches Deutsch seien, hält sie für die dümmste Auffassung überhaupt. Vielfach bewahrt das Bayerische die ursprünglicheren – richtigeren? – Wörter: „Liabe“ statt Liebe. „Bruader“ statt Bruder. Aber Mundarten bevorzugen nun einmal eine spezielle Lebensweise: Man sollte möglichst dort sterben, wo man geboren wurde und zwischendurch nie weggehen. Über Generationen. Dialekte und Mobilität passen nicht zusammen. Es sei denn, eine Region ist so stolz auf ihre ererbte Sprache, dass sie gut aufpasst, ihre Färbung nicht zu verlieren.

Ein früherer Mitarbeiter hat unlängst die seit 1911 gefüllten Zettelkästen geprüft und ist bei Buchstabe S, näherhin „Sch“, auf eine empfindliche, vollkommen unhaltbare Lücke gestoßen. Fast kein Eintrag bei einem der volkssprachlich meistgebrauchten Wörter überhaupt? Es bezeichnet genau das, was die Leute einen Haufen von etwas nennen, und niemand will etwas dazu sagen? Zefix halleluja! Da hat der Mitarbeiter aber Mahnungen herausgeschickt an die rund 350 Sachverständigen und Gewährsleute.

Noch weiß niemand genau, wie viele Wörter das Bayerische wirklich hat. 30.000 sind schon interpretiert. Etwa 120.000 könnten es sein. Und wenn die Münchner wie die Schweizer erst mal beim Z angekommen sind, wird es noch einmal richtig kompliziert. Zefix halleluja!

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