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Stephan Ernst (l.) soll den Kassler Regierungspräsidenten vor einem Jahr getötet haben.

© Boris Roessler/dpa

Siebter Prozesstag im Lübcke-Prozess: „Wir werden damit niemals fertigwerden“

Im Zeugenstand: Am siebten Verhandlungstag im Mordfall Walter Lübcke schildert dessen Sohn, wie er den toten Vater auf der Terrasse fand.

Jan-Hendrik Lübcke schiebt den Zeugenstuhl zurück. „Darf ich es kurz vorführen?“, fragt er den Vorsitzenden Richter. Dann rutscht der Sohn des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten auf seinem Stuhl nach vorn, legt den Rücken auf der Lehne ab, den Kopf lässt er in den Nacken sinken. Er schließt die Augen und öffnet den Mund. „So habe ich Papa gefunden“ – erschossen in der Nacht des 1. Juni 2019.

Der siebte Verhandlungstag im Mordfall Lübcke steht ganz im Zeichen der Vernehmung des jüngeren Lübcke-Sohns. Nur sehr spärlich hatte sich Familie bislang zur Tat geäußert, Medienanfragen abgeblockt. Entsprechend groß waren die Erwartungen an die Zeugenaussage am Dienstag. Doch bevor Jan-Hendrik Lübcke in den Zeugenstand gerufen werden kann, hat das Gericht noch einen Beschluss vom Vortag zu verkünden.

Der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel teilt mit, was alle schon vermutet hatten: Auf Antrag des Hauptangeklagten Stephan Ernst entbindet das Gericht dessen Pflichtverteidiger, den Dresdner Rechtsanwalt Frank Hannig, von seinen Pflichten.

Am Montag war es im Gerichtssaal in Frankfurt am Main zum Eklat gekommen, als Hannig unter anderem angeregt hatte, einen Einbruch im Kasseler Regierungspräsidium wenige Wochen nach der Tat genauer untersuchen zu lassen. Möglicherweise, raunte er, seien dort Akten gestohlen worden, die Details zu zwielichtigen Geschäften der Lübcke-Söhne enthalten könnten.

Zerrüttetes Vertrauensverhältnis zwischen dem Angeklagten und seinem Verteidiger

Einen Beleg für seine Unterstellungen nannte Hannig nicht, entsprechend ungehalten reagierte Richter Sagebiel: „Diese Anträge sind gequirlter Unsinn.“ Auch Hannigs Verteidigerkollege Mustafa Kaplan zeigte sich überrascht. Sein Mandant und er hätten nichts gewusst von Hannigs Anträgen. „Wir haben kein Interesse, dass Herr Lübcke und seine Söhne mit Dreck beworfen werden.“

Am Dienstag folgt Sagebiel dem Antrag Ernsts. Die Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Angeklagten und seinem Verteidiger sei nachvollziehbar, sagt Sagebiel. Und an Hannig gerichtet: „Sie sind entlassen, danke schön.“ Der stürmt daraufhin mit rotem Kopf aus dem Saal.

Erst dann kann die Vernehmung Lübckes beginnen. Zunächst fragt der Richter Personalien ab. Jan-Hendrik Lübcke, 30 Jahre alt, selbstständig mit einer Firma, die er zusammen mit seinem älteren Bruder Christoph und einem Cousin führt.

Dann wünscht sich Sagebiel eine Schilderung Lübckes zum Tag der Tat. Und der erzählt mit fester Stimme, was er erlebt hat. Der Samstag, so schildert es Jan-Hendrik Lübcke, beginnt für ihn zunächst mit seinem größten Hobby, Radfahren. Nachmittags wechselt er die Reifen am Auto seiner Frau. Gemeinsam mit ihr wohnt Lübcke bis heute im Obergeschoss des Hauses in Wolfhagen-Istha, in dessen Untergeschoss auch sein Vater lebte und auf dessen Terrasse Walter Lübcke erschossen wurde.

Die Söhne von Walter Lübcke, Jan-Hendrick und Christoph Lübcke, hier beim ersten Prozesstag am 16. Juni.

© Thomas Lohnes/Getty Images Europe/Pool/dpa

Noch am Nachmittag, erzählt Lübcke, habe er „den Papa“ gesehen, wie der – typisch bekleidet mit Blaumann, kariertem Kurzarmhemd und Schlappen – Unkraut rund ums Haus gejätet habe. Auch abends trifft er den Vater, flachst mit ihm, weil der sich ein neues Auto kaufen möchte. Dann bricht Jan-Hendrik Lübcke, begleitet von drei Freunden, zur Isthaer Kirmes auf, nur wenige Meter vom Haus der Familie entfernt. Gegen halb eins sei er dann zum Haus zurückgekehrt.

Kurz wundert er sich über die nur angelehnte Terrassentür und ein brennendes Licht, dann beschließt er, zunächst den Akku seines E-Bikes einzustecken für eine geplante Tour am nächsten Morgen. Erst dann betritt er über das Haus die Terrasse, um nachzusehen, ob sein Vater noch draußen sitzt. Als er sieht, wie der zurückgesunken im Stuhl sitzt, denkt Lübcke zunächst, dieser sei eingeschlafen.

„Er hat nicht reagiert und sich kalt angefühlt“

„Ich habe ihn angestupst, am Arm und an der Wange. Er hat nicht reagiert und sich kalt angefühlt.“ Sein nächster Gedanke sei ein medizinischer Notfall gewesen. „Er war ja nicht der Schlankeste, wir haben ihm oft gesagt, er könnte ein bisschen abnehmen, auch, um noch mehr Zeit mit seinen Enkeln zu haben. Nun dachte ich: Jetzt ist passiert, worüber wir immer gesprochen haben – und er hat einen Herzinfarkt erlitten.“

Lübcke wählt die 112. Er versucht, seinen Vater zu reanimieren. Er sieht, wie die rechte Gesichtshälfte seines Vaters mit Blut vollläuft. Erst als die Sanitäter ein paar Minuten später eintreffen, kann Lübcke seine Mutter verständigen, dann ruft er nen Freund an.

Nachts erfahren die Söhne, dass im Kopf des Vaters ein Gegenstand steckte

„Ich habe gesagt: Es ist etwas passiert, hol Christoph!“ Als Lübcke schildert, wie er seinen Bruder benachrichtigt, entfährt ihm ein Schluchzer. „Wollen wir eine Pause machen?“, fragt Richter Sagebiel. „Nein, alles gut“, sagt Lübcke. In der Folge berichtet er, was weiter passiert: wie der Vater auf Drängen der Familie ins Krankenhaus gefahren wird, obwohl die Sanitäter wohl schon da wussten, dass Lübcke sterben wird. Und wie die Söhne nachts erfahren, dass im Kopf des Vaters ein Gegenstand gefunden worden sei.

Am Ende seiner zweistündigen Aussage hat Richter Sagebiel noch eine Frage an Jan-Hendrik Lübcke. „Was hat diese Tat mit Ihnen und der Familie gemacht?“ Jan-Hendrik Lübcke atmet tief. „Wir werden damit niemals fertigwerden. Der Mord bleibt unbegreiflich.“

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