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Demonstranten protestieren gegen das Abkommen.

© imago images/ITAR-TASS

Das Leiden der Armenier: „Wir sind der Welt nicht wichtig genug“

Das Blutvergießen scheint umsonst gewesen: Der Waffenstillstandsabkommen mit Aserbaidschan ist für die Armenier eine Schmach, die schlimme Erinnerungen weckt.

Laura Cingoz und Guillaume Salmaslijan sind gleich nach Beginn des Kriegs in das Land ihrer Vorfahren geeilt. Eigentlich lebt das Paar in Paris, er studiert Wirtschaft in einem Masterprogramm, sie lässt sich zur Kosmetikerin ausbilden.

Die beiden 23-Jährigen haben Gelder gesammelt für die Menschen, die aus der umkämpften Region Bergkarabach geflohen waren. Damit kauften sie in Armenien Lebensmittel und Kleidung. „Manche von ihnen hatten nicht mal richtige Schuhe, nur Sandalen“, sagt Laura über die Geflohenen. Die Männer waren am 27. September, dem ersten Tag des Krieges, gegen Aserbaidschan in die Schlacht gezogen, die Familien blieben zurück.

Viele Väter – aber auch Söhne, Brüder, Ehemänner und Geliebte – sind aus den Schlachten in und um Bergkarabach nicht zurückgekehrt. Von 1300 armenischen Gefallenen war zuletzt die Rede, Schätzungen liegen viel höher.

Der Krieg gegen das Nachbarland Aserbaidschan um die Gebirgsregion, die die Armenier Artsach nennen, war längst zu einer nationalen Tragödie geworden. Doch jetzt scheint all der Aderlass umsonst gewesen: Das Waffenstillstandsabkommen, das am späten Montagabend unterzeichnet wurde, stellt für die Armenier eine tiefe Peinigung dar – und eine bitterböse Überraschung.

„Seit Beginn des Krieges hören wir dieses Mantra“, zeigt Laura auf ein riesiges Banner hinter sich im Zentrum von Jerewan. Auf Rot-Blau-Orange, der Landesflagge, prangt ein Hashtag in armenischer Schrift: Wir werden siegen. „Doch jetzt“, sagt die armenische Französin, haben wir plötzlich verloren. Dabei waren doch alle bis zum letzten Blutstropfen entschlossen."

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Friedliche Revolution

Ausgerechnet Nikol Paschinjan, der Premier, der das Volk seit der friedlichen Revolution 2018 auf einen westlichen Kurs für die Freiheit und gegen die Korruption angeführt hatte, hat am späten Montagabend die Quasi-Kapitulation unterschrieben.

Die Vereinbarung mit dem Präsidenten von Aserbaidschan Ilham Alijew unter Vermittlung von Kremlchef Wladimir Putin postuliert die Entsendung von 1960 russischen Friedenssoldaten in die umkämpfte Region – insbesondere aber auch umfangreiche territoriale Zugeständnisse.

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Nach mehr als sechs Wochen schwerer Gefechte werden weite Teile Bergkarabachs und an die Exklave angrenzende Regionen Aserbaidschan zugeschlagen, zusätzlich erhält Baku eine über armenisches Gebiet verlaufende Verbindung in die Exklave Nackchivan, einen Korridor zur Türkei. Ankara könnte dazu eigene Friedenstruppen stellen, was die Peinigung noch vertiefen dürfte.

Für alle Armenier, nicht nur die 145.000 Bewohner von Bergkarabach, ist es ein Horrorszenario. Umgeben und nun auch militärisch niedergerungen und beinahe vernichtet von den beiden Erzfeinden, der Turkvolk-Allianz Aserbaidschan und Türkei.

Die türkische Unterstützung, durch Kampfdrohnen und syrische Söldner, war ein wesentlicher Faktor für den Sieg über die größtenteils noch mit sowjetischer Waffentechnik ausgestatteten armenischen Verbände, die vergeblich auf russische Intervention gehofft hatten.

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In der Notaufnahme des Krankenhauses von Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach, kamen Ende vergangener Woche in kurzer Folge die Verwundeten an, erst in sowjetischen Buchanka-Transportern, später sogar in Bäckereilieferwagen.

Die aserbaidschanischen Truppen hatten Schuscha, das die Armenier Schuschi nennen, am Wochenende eingenommen. Die Stadt war und ist für beide Seiten kulturell wie strategisch von größter Bedeutung. „Wäre der Vormarsch in dieser Geschwindigkeit weitergegangen, hätten wir ganz Artsach in einigen Tagen verloren und noch viele weitere Verluste erlitten“, erklärte Hareik Harutiunan der armenische Führer der international nicht anerkannten Republik nach der Niederlage.

Premier Paschinjan berief sich in seiner Erklärung auf die militärische Zwangslage. Der Regierungschef fällte sie ohne Absprache mit dem Kabinett, dem Parlament oder dem Staatsoberhaupt. Präsident Armen Sarkissjan beklagte am Dienstag: „Ich habe aus der Presse davon erfahren.“

Kurz nach Paschinjans Erklärung stürmte ein Mob am Dienstagmorgen das Regierungsgebäude am Platz der Republik und das Parlament. Der Präsident des Abgeordnetenhauses wurde zusammengeschlagen, Abgeordnetenbüros geplündert.

Große Empörung

Auch am späteren Dienstag legte sich die Empörung nicht. In einem Seitenzimmer des Regierungsgebäudes erklärte eine Gruppe Zivilisten, die sich in der Nacht als „Nationale Versammlung“ gegründet hatte, dass man Paschinjans Entscheidung und dis Abkommen ablehnt.

Bergkarabach, das wurde in der Stunde der Niederlage erneut klar, hat – wenn auch formell eigenständig – für das armenische Volk eine beinahe heilige Bedeutung. Dort lebten seit vielen Jahrhunderten durchgehend Armenier, hier haben Väter und Großväter viel Blut vergossen, was nicht umsonst gewesen sein darf.

Armenien hatte Karabach und umliegende Gebiete in einem blutigen Krieg in den 90er-Jahren erobert und damals tausende Aserbaidschaner von dort vertrieben. Vielen der armenischen Bewohner der Region droht nun ein ähnliches Schicksal.

Gemäß dem Waffenstillstandsabkommen wird nur eine Torso-Exklave bleiben, noch dazu ohne geregelten Status, wie Ilham Alijew betonte. Die Niederlage Armeniens ist beinahe total – und weckt Erinnerungen an den Völkermord von 1915. Umso mehr, weil es wieder gegen die Türkei ging, die den Genozid an den Armeniern nie anerkannt hat.

Das gepeinigte Volk fühlte sich in diesem Konflikt alleine gelassen, wie der Deutsch-Armenier Baru Jambazian erklärt: „Wir Armenier haben nach diesem abgekarteten Spiel nichts mehr zu sagen, denn Worte haben keine Macht.“ Laura Cingoz ist sich sicher: „Wir sind der Welt nicht wichtig genug.“

Thore Schröder

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