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Gut gelaunt begrüßt Angela Merkel am Abend auf dem Balkon des Kanzleramts Olaf Scholz und Andrea Nahles, bevor der Koalitionsausschuss seine Beratungen beginnt.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Update

Die Koalition und die Asylfrage: Wie die Kanzlerin um den Fortbestand der Union kämpft

Die Kanzlerin kämpft um eine europäische Lösung der Asylfrage. Die CSU gibt sich hart, die SPD will endlich mitreden. Verlauf eines fiebrigen Tages im politischen Berlin.

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8 Uhr, Reichstag

Der erste Koalitionsgipfel des Tages findet nicht im Kanzleramt, sondern im Reichstag statt. Wie immer am Dienstagmorgen treffen sich SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles, Unionsfraktionschef Volker Kauder und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt zum Frühstück. Nur dass an diesem Dienstag nichts ist wie immer. Nahles und Kauder sehen ihre Aufgabe darin, die Koalition zusammenzuhalten. Aber will Dobrindt das noch?

9.45 Uhr, Jakob-Kaiser-Haus

Michael Grosse-Brömer sorgt sich ernsthaft. „Wir haben es da mit einem Thema zu tun, dass noch größere Dimension bekommen wird“, warnt der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion. Was ihn so umtreibt, ist der Wolf. Grosse-Brömer wohnt in der Lüneburger Heide, außerdem hat er einen Jagdschein. Der Wolf ist auch in seine Heimat eingewandert, der Wähler hat Angst vor dem Waldspaziergang. Die Unionsfraktion will sich kümmern. Was das andere Sorgenthema angeht, kommt Grosse-Brömer sein sonniges Gemüt und sein Zutrauen in die Kanzlerin zugute: „Ich glaube schon, dass sie das Bestmögliche für Deutschland erreichen kann.“ Er kenne übrigens niemanden, der die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU aufkündigen wolle.

9.50 Uhr, Jakob-Kaiser-Haus

Was macht eine Partei, die mit „Merkel muss weg“ Wahlkampf gemacht hat, wenn die Kanzlerin tatsächlich ginge? Bernd Baumann, Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion im Bundestag, tut so, als sei das mittlerweile egal. Merkel sei ja nur die „Gallionsfigur“ einer gescheiterten Politik. Der Union hafte der „Stallgeruch“ von Merkels Einwanderungspolitik weiter an – daran werde auch ein Wechsel an der Spitze nichts ändern. Doch so gelassen ist man intern in Wirklichkeit nicht. Die AfD braucht Merkel als wichtigsten Gegner, auch zur Mobilisierung ihrer Wähler.

10 Uhr, Kanzleramt

Angela Merkel schreitet gemeinsam mit dem spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sanchez im Ehrenhof vor dem Kanzleramt über den roten Teppich. Der neue spanische Regierungschef spielt eine wichtige Rolle: In zwei Tagen beginnt der EU-Gipfel, bei dem die Kanzlerin entscheidende Fortschritte in der Flüchtlingspolitik erreichen muss, sei es EU-weit (unwahrscheinlich) oder durch bilaterale Absprachen (schon wahrscheinlicher). Wenn Merkel keine „wirkungsgleiche“ europäische Lösung mit nach Hause bringt, wollen Innenminister Horst Seehofer und seine CSU ernst machen und Flüchtlinge im Alleingang an der deutschen Grenze zurückweisen,.

10.50 Uhr, Landesvertretung Bayern

Alexander Dobrindt versichert, dass niemand die Absicht habe, die Gemeinschaft zu sprengen. „Erstens: CDU und CSU sind eine Schicksalsgemeinschaft“, doziert der CSU-Landesgruppenchef. Zweitens: „Wir diskutieren über Sachfragen, und zwar ausschließlich über Sachfragen.“ Drittens aber gibt sich Dobrindt nicht kompromissbereit. „Wir werden einen politischen Fehler nicht wiederholen, nämlich dass wir einen Dissens offen im Raum stehen lassen.“ Dass die CSU eineinhalb Jahre lang Merkel als Herrscherin des Unrechts schmähte und dann für sie Wahlkampf machte, gilt in der CSU-Welt als Grund dafür, dass man in Bayern aus der Bundestagswahl noch gerupfter herauskam als die CDU. Deshalb wollen CSU-Vorstand und CSU-Bundestagsabgeordnete am Sonntag in einer gemeinsamen Sitzung in München darüber befinden, ob sie Merkels Verhandlungsergebnis in Brüssel akzeptieren. Dobrindt legt die Latte hoch: „Das kann nicht eine reine Absichtserklärung an die Zukunft sein.“ Kommt noch ein Verhandlungsaufschub infrage? „Nein.“ Also, worauf kommt es an? Auf eine, sagt Dobrindt, „Gesamtschau“. Das wolkige Wort ist das einzige, das überhaupt irgendeinen Entscheidungsspielraum für die CSU-Spitzen erahnen lassen könnte.

11.20 Uhr, Kanzleramt

Merkel bleibt Merkel. Sie dämpft bei der Pressekonferenz nach dem Gespräch mit dem spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sanchez allzu hohe Erwartungen aus München an den EU-Gipfel. Aus Sicht der „allermeisten Mitgliedstaaten“ sei die „Frage der externen Dimension der Migration“ der zentrale Punkt. Auf Deutsch heißt das: Es kommt auf die Zusammenarbeit mit afrikanischen Herkunfts- und Transitstaaten und auf den Schutz der EU-Außengrenzen an. Sanchez bietet derweil Merkel seine Hilfe an, wenn es um die in erster Linie von der CSU erhobene Forderung geht, das Weiterziehen von Flüchtlingen innerhalb der EU künftig zu unterbinden. Die Kanzlerin hört ihrerseits konzentriert zu, als der Gast aus Madrid die Aufmerksamkeit auf einen Punkt jenseits der Migrationsfrage lenkt, der ebenfalls beim Gipfel Ende der Woche besprochen wird – die Zukunft der Währungsunion. Man ahnt in diesem Moment, wie europäische Politik funktioniert – es ist ein Geben und Nehmen.

12 Uhr, Kanzleramt

Merkel empfängt Donald Tusk. Eineinhalb Stunden sind für das Mittagessen mit dem EU-Ratspräsidenten angesetzt, der den Brüsseler Gipfel vorbereitet. Tusks Gipfelregie sieht vor, dass das für Merkel so wichtige Migrationsthema am Donnerstagabend beim Dinner im Kreis der 28 Staats- und Regierungschefs einen breiten Raum einnimmt. Tusk hat einen Entwurf für die Gipfelerklärung im Gepäck. Dort heißt es sinngemäß, dass die EU-Staaten kooperieren sollen, wenn einzelne Länder (also etwa Deutschland) Gesuche zur Rücküberstellung von Flüchtlingen stellen. Unklar ist aber zu diesem Zeitpunkt, ob Italien die Erklärung so mitträgt – und ob sie der CSU reicht.

14.20 Uhr, Willy-Brandt-Haus

Lars Klingbeil lässt sich von der Parteizentrale zum Reichstag fahren. Für den jungen SPD-Generalsekretär entscheidet sich in den nächsten Tagen, ob er den ersten Bundestagswahlkampf seiner Karriere organisieren muss. Für die darniederliegende SPD wäre ein Bruch der Unionsparteien mit anschließenden Neuwahlen der Worst Case. Grundlegende programmatische Fragen sind ungeklärt, ebenso die Frage, wer im Fall des Falles für die SPD in die Wahlauseinandersetzung ziehen müsste. Die undankbare Aufgabe könnte auf Vizekanzler Olaf Scholz zulaufen, wenn sich Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil nicht noch überzeugen lässt.

14.45 Uhr, Reichstag

Auf der Fraktionsebene im dritten Stock sind fünf Kameras auf Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel gerichtet. Er soll die Dimension der Krise erklären. Die Aufmerksamkeit macht ihm Spaß, der Flüchtlingsstreit und seine Wirkung machen ihm Angst. „Wenn wir hier in Deutschland verunsichert sind, dann bebt der Rest Europas“, sagt er. Dann spricht er über Verletzungen, Emotionen in der Politik: „Was jetzt passiert, ist, dass Rache genommen werden soll, dass Merkel weg soll.“

14.55 Uhr, vor der SPD-Fraktion

SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles hat sich etwas überlegt für ihr Statement vor der Fraktionssitzung. Sie hat gute Nachrichten mitgebracht und schlechte. Die gute: Der Mindestlohn steigt. „Damit wird ein Versprechen eingelöst“, sagt sie. Außerdem werde Finanzminister Olaf Scholz 1400 Stellen für die Kontrolle des Mindestlohns schaffen. „So weit die guten Nachrichten. Weniger gute Nachrichten gibt es im Machtkampf zwischen CDU und CSU.“ Der nämlich lähme „die ganze politische Arbeit“. Mietpreisbremse, Gute-Kita-Gesetz, Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose, das alles wird laut Nahles vernachlässigt, weil die Union mit sich selber ringt. Mit dem Koalitionsausschuss am Abend soll sich das ändern. „Da geht es genau darum, dass die CDU/CSU wieder zur Sacharbeit zurückkehrt.“

15:10, in der Unionsfraktion

Volker Kauder läutet in der CDU/CSU-Fraktion die Glocke. Die Unionsfraktion tagt wieder gemeinsam nach dem kriegerischen Intermezzo am vorigen Donnerstag, als CDU- und CSU-Abgeordnete sich getrennt um ihre Anführer scharten. Als erster Tagesordnungspunkt steht der Entwurf zur Änderung des Wildtier und des Jagdgesetzes, also der Wolf; danach eine geplante Enquetekommission „Künstliche Intelligenz“. Die drängendere Frage lautet eigentlich, ob die natürliche Intelligenz aller Beteiligten ausreicht, die Krise zu lösen. Aber das wird nur halblaut verhandelt. Angela Merkel marschiert auf ihren Platz zwischen dem Fraktionschef und dem CSU-Statthalter Dobrindt. Horst Seehofer ist nicht zu sehen. Die Glocke klingt, die Türen gehen zu. In seiner Einleitung greift Kauder zum WM-Vergleich: „Man kann auch in der 95. Minute das erlösende Tor schießen.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht zu Beginn der Sitzung der Unionsfraktion über den leeren Platz von Innenminister Seehofer (CSU) hinweg mit CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt.

© Michael Kappeler/dpa

15:35, in der Unionsfraktion

Merkel berichtet über den Meseberg-Gipfel mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Dann sagt sie den entscheidenden Satz: Auch für sie, versichert die Kanzlerin, sei die Gemeinschaft von CDU und CSU eine Schicksalsgemeinschaft, „die auch Bestand haben wird.“ Lauter Beifall, auch die CSU-Abgeordneten klatschen. „Wer als erster wackelt verliert“, sagt ein erprobter CSU-Krieger. „Wir können die Fahne nicht einholen, so hoch wie wir sie aufgezogen haben.“ Am Tag vorher in der CSU-Landesgruppe, sagt einer, der dabei war, sei sehr deutlich geworden, dass unter den Berlinern nie und nimmer eine Mehrheit für den Bruch der Fraktionsgemeinschaft zustande käme. Angesichts der Konsequenzen für jeden Einzelnen und die Partei insgesamt könne man so etwas nicht mal denken, sagt der Mann.

20.30 Uhr im Kanzleramt

Angela Merkel begrüßt demonstrativ auf dem Balkon des Kanzleramts in guter Laune Andrea Nahles und Olaf Scholz. Es ist wärmer geworden am Abend, ein gutes Zeichen. Die weiteren Teilnehmer sollten folgen: Volker Kauder, Kanzleramtschef Helge Braun, Horst Seehofer und Alexander Dobrindt. Der Ausgang des Treffens war zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe offen. Eines aber wurde schon vorher klar. Über Seehofers umstrittenen „Masterplan“ zur Integration und Asyl wollte die CSU mit der SPD im Koalitionsausschuss nicht verhandeln. „Wir haben jetzt nicht vor, mit der SPD eine Einigung zu erzielen, bevor wir untereinander einig sind“, sagte Dobrindt. Auch Andrea Nahles rechnete offenbar auch nicht mehr damit, dass Seehofer seinen Masterplan vorlegt. Das lasse sie völlig kalt, sagte Nahles.

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