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Der demokratische US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden küsst seine Frau Jill Biden nach ihrer Rede beim virtuellen Nominierungsparteitag der Demokraten am 18. August. Die Lehrerin steht in einem Klassenzimmer ihrer Schule.

© REUTERS

Parteitag der US-Demokraten: Wie Biden die Sehnsüchte der Amerikaner bedient

Joe Biden wird auf dem Parteitag der Demokraten zum Vater der Nation stilisiert. Warum Kitsch und Pathos jetzt genau das Richtige sind. Eine Analyse.

Von Anna Sauerbrey

Noch hat Joe Biden wenige inhaltliche Akzente gesetzt. Ja, er hat ein Programm entworfen, in dem er pflichtschuldig eine Steuer-, Gesundheits- und Energiepolitik entwirft - und natürlich einen Plan für die Bewältigung der Covid-19-Pandemie entwickelt. All das aber wird in diesem Wahlkampf nachrangig bleiben.

Die Aufgabe des Parteitags: Eine Biden-Erzählung finden, die funktioniert

Die Aufgabe von Joe Biden und der demokratischen Partei ist es vielmehr, die große Biden-Erzählung zu finden, etwas, das ihn als Mensch definiert und erklärt – und als Gegenbild zu Donald Trump positioniert. Der virtuelle Nominierungsparteitag der Demokraten hat am Mittwoch deutlich gemacht, welche Erzählung das sein wird: die des Vaters der Nation.

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Am zweiten Tag der fast vollständig digitalen Krönungsmesse trat unter anderem Jill Biden auf, seine Ehefrau und die Mutter einer gemeinsamen Tochter. Jill lernte Joe Biden 1977 kennen, 1972 hatte er seine erste Frau und seine 15 Monate alte Tochter bei einem Autounfall verloren. Zwei kleine Söhne hatten den Unfall überlebt. Einer von ihnen, Beau Biden, starb 2015 an Krebs. Es ist diese von Tragödien geprägte Lebensgeschichte, die Jill Biden in ihrer Rede zur Parabel auf die verletzte und heilungsbedürftige Nation stilisiert – eine Nation, die jenen liebenden Vater braucht, als den sie ihren Ehemann zeichnet. [Mit dem Newsletter „Twenty/Twenty“ begleiten unsere US-Experten Sie jeden Donnerstag auf dem Weg zur Präsidentschaftswahl. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung: tagesspiegel.de/twentytwenty.]

Jill Biden, Joe Bidens Frau, erzählt ihn als liebevollen Vater

„Ich habe mich in einen Mann und zwei kleine Jungen verliebt, die in den Trümmern eines unfassbaren Verlusts standen“, sagt Jill Biden in die Kamera – die Lehrerin steht in einem Klassenraum ihrer Schule. Als sie ihren Mann 1977 kennenlernte, war sie selbst erst 26 und sie habe sich gefragt: „How do you make a broken family whole – Wie heilt man eine zerbrochene Familie?“ Ihre Antwort: „Auf dieselbe Art und Weise, wie man ein Land heilt: mit Liebe und Verständnis, mit kleinen Gesten der Herzlichkeit, mit Mut, mit unverrückbarem Zusammenhalt.“ Das sei auch das Herz, die Seele Amerikas, so Jill Biden, dafür kämpfe ihr Mann.

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Biden in dieser Weise zu positionieren, ist ein kluger Schachzug. Man mag das als Europäer als hoffnungslos verkitschtes amerikanisches Pathos abtun, aber wahrscheinlich ist es tatsächlich genau dieses hoffnungslos verkitschte amerikanische Pathos, nach dem viele Amerikaner sich sehnen und das Donald Trump ihnen viel zu lange vorenthalten hat.

Den Amerikanern fehlt seit Trump der "Consoler-In-Chief" - der Oberste Tröster der Nation

Amerika ist groß, das Wetter in vielen Teilen des Landes rau, die sozialen Verhältnisse sind es auch. Viel öfter als in anderen westlichen Ländern kommt es zu Dramen und Großkatastrophen, die die Menschen bewegen: Hurricanes, Attentate, Amokläufe, rassistische Morde. In solchen Momenten ist präsidialer Trost gefragt, den Donald Trump dem Land nicht gibt.

Immer wieder versagte Trump auf bizarre Weise bei nationalen Katastrophen: in El Paso, in Puerto Rico, bei der Corona-Pandemie

Immer wieder versagte er während seiner Amtszeit auf geradezu bizarre Weise als „Griever and Consoler-In-Chief“, als Oberster Trauernder und Tröster der Nation. So ließ er sich im Oktober 2017, nachdem Hurricane Maria das amerikanische Außengebiet Puerto Rico getroffen hatte, dorthin fliegen, doch ging die Inszenierung der Übergabe von Hilfsgütern an Bedürftige gründlich schief. In einer Kirche in San Juan trat er mit Siegergestus auf, die Arme hoch gereckt, als beklatsche er sich selbst, und warf  Rollen von  Küchenpapier, die auf einem Klapptisch lagen, in die Menge, als sei das Ganze eine Jahrmarktveranstaltung.

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Im August 2019 dann, als ein Mann in einem Supermarkt in El Paso, Texas, mutmaßlich aus rassistischen Motiven 23 Menschen erschoss und 23 weitere verletzte, war das Band zwischen dem Präsidenten und großen Teilen der Nation bereits zerschnitten. Trump flog nach El Paso, und sein Team bot Verletzten im Krankenhaus einen Besuch des Präsidenten an Die meisten lehnten ab. Der Onkel eines Babys, das bei dem Attentat beide Eltern verloren hatte, willigte schließlich ein, Donald und Melanie Trump zu treffen. Die First Lady verbreitete anschließend ein Foto von dem Treffen auf Twitter, das viele Amerikaner schockierte: Melania Trump hält das Waisenkind im Arm, beide Trumps grinsen und Donald Trump macht die Daumen-hoch-Geste.

Melania und Donald Trump treffen im August 2019 mit Angehörigen von Opfern eines Anschlags mit mutmaßlich rassistischem Hintergrund in El Paso, Texas. Melania Trump hält ein Baby im Arm, das bei der Tat seine Eltern verloren hat. Links im Bild dessen Onkel.
Melania und Donald Trump treffen im August 2019 mit Angehörigen von Opfern eines Anschlags mit mutmaßlich rassistischem Hintergrund in El Paso, Texas. Melania Trump hält ein Baby im Arm, das bei der Tat seine Eltern verloren hat. Links im Bild dessen Onkel.

© Melania Trump/Twitter

Auch Republikaner, die gegen Trump mobil machen, verbreiten die Geschichte vom "Vater der Nation"

Der Höhepunkt des Empathie-Versagens aber ist sicher die Coronakrise. 165.000 Amerikaner sind gestorben, Ältere vereinsamen in Altenheimen, Kinder können nicht zur Schulen, die Arbeitslosenrate stieg zeitweise auf über 14 Prozent und lag im Juli bei 10 Prozent. Kein Wort des Mitgefühls aus dem Weißen Haus, stattdessen gibt sich der Präsident obszöner denn je, macht vom Schreibtisch im Oval Office aus Werbung für Produkte der Marke Goya, spielt am Wochenende Golf und nölt, keiner möge ihn.

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Da, wo die Seele des Landes sitzt, klafft ein großes schwarzes Loch.  Joe Biden  ist die Rolle des „Consoler“ auf den Leib geschneidert. Das haben nicht nur die Demokraten erkannt. Auch das "Lincoln Project", ein Zusammenschluss von Republikanern und Ex-Republikanern, die Trump stürzen wollen und Joe Biden offen unterstützen, hat vor zwei Tagen ein Video veröffentlicht, das dieselbe Erzählung verbreitet. Es heißt einfach „Dad“ und erzählt ebenfalls die Geschichte des Witwers, der seinen Kindern Pflaster auf ihre aufgeschürften Knie klebt und nach einem langen Arbeitstag zu den Elternabenden hetzt: Einer, der da ist, wenn’s wehtut.

Die Geschichte von "Daddy Joe" könnte verfangen - ist aber auch ein Risiko

Die Erzählung von "Daddy Joe" ist nicht ohne Risiken. Es ist ein paternalistisches Präsidentenbild, das viele Jüngere und Progressive, die nach Beteiligung und Veränderung dürsten, auch befremden kann. Nicht alle werden sich von einer Vaterfigur "heilen" lassen wollen, sondern  das Land lieber selbst gestalten. Für deren Tatendrang – und auch Wut  – muss Kamala Harris stehen. Die Mitte aber, die vielen Vorstadtamerikaner der unteren und mittleren Mittelschicht, die vom politischen Dauerkampf zermürbt sind, dürften das zu schätzen wissen. "Daddy Joe" ist eine Geschichte, die verfangen könnte.

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