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 Auch am Namen der U-Bahn-Haltestelle Onkel Toms Hütte in Berlin-Zehlendorf entzündet sich die Debatte.

© Kitty Kleist-Heinrich

Wider die Cancel-Culture: Wer seine Gruppe immer gegen alle anderen verteidigt, grenzt selbst aus

Eindeutige Identitäten gibt es gar nicht - ihre Verfechter treten aber immer radikaler auf. Über eine Debatten-Unkultur. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Peter von Becker

Sollte ich heute in dem Fragebogen, der durch Marcel Proust so berühmt geworden ist (und später auch von Madonna oder Trump beantwortet wurde), auf die Frage „Was schätzen Sie an einer Frau am meisten?“ etwas erwidern, wäre meine Antwort: „Das Gleiche wie bei Männern: Charme, Intelligenz, Humor.“ Wobei Humor und Intelligenz auch Selbstironie und Toleranz mit einschließen.

Allerdings müsste ich statt nur „Männer“ inzwischen wohl auch Transgender-Personen, dritte Geschlechter oder gar Geschlechtslose hinzufügen – um im Netz nicht gleich das Gegenteil von Humor und Toleranz zu ernten.

Ein harmloses Beispiel. Aber recht harmlos war auch die Bemerkung der Schriftstellerin J.K. Rowling, dass sie als Feministin lieber weiter von „Frauen“ sprechen wolle und nicht von „Menschen, die menstruieren“. Die Folge war bekanntlich ein Shitstorm von Transgender-Aktivisten.

Doch was nur am Rande erwähnt wurde: Auch die „Harry Potter“-Filmstars Emma Watson und Daniel Radcliffe sind eilfertigst auf Distanz gegangen gegenüber der Frau, der sie über Jahre Karriere, Ruhm, Reichtum und Zuneigung verdanken. Eigentlich war diese Charakterlosigkeit der wahre Skandal – in einem Moment, in dem die Verteidigung des Worts „Frau“ ernstlich als „grausam und gefährlich“ attackiert wurde.

Cancel-Culture: Der wachsende Fanatismus führt zu einer Debatten-Unkultur

Die Cancel-Culture-Debatte wird immer mehr zur Unkultur-Debatte. Zur Debatten-Barbarei, wenn unliebsame Meinungen, ob zu Schwarzen, Weißen, Corona, Israel, zur Polizei oder selbst zu einem so emotional humanistischen, aus einer ganz anderen Zeit zu verstehenden Jugendbuch wie „Onkel Toms Hütte“, mit wachsendem Fanatismus geführt werden.

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Wenn Künstler, Kabarettisten, Wissenschaftler und Querdenker auf Druck identitätspolitischer Gruppen weiter bedrängt, von Festivals und Vorträgen ausgeladen werden. Nach dem prominenten Aufruf von 153 überwiegend angloamerikanischen Schriftstellern und Wissenschaftlern gegen die neue Intoleranz hat sich hier in Deutschland, wo sonst alle amerikanischen Themen sogleich aufgenommen werden, keine ähnlich große Schar von Autoren geäußert. Ist man schon so eingeschüchtert?

Mal wird die eigene Identität gegen Werke der Kunst aggressiv, mal wehleidig verteidigt

Der Debattenklimawandel ist da. So richtig es ist, jeglichem Rassismus und jeglicher Diskriminierung einzelner Personen und Gruppen entgegenzutreten, so sehr ist darauf zu achten: wie bei den neuen Identitären die anfängliche Verteidigung von Minderheitenrechten nach rechts kippt.

Biologisch gibt es bekanntlich keine verschiedenen Menschen-„Rassen“. Wer aber ständig auf seiner vermeintlich eindeutigen Identität als schwarz, weiß, Mann, Frau, trans beharrt, wer glaubt, seine Gruppe, Nation, Religion, Weltanschauung gegen alle Anderen und auch gegen Werke der Kunst aggressiv oder wehleidig verteidigen zu müssen, der grenzt selbst aus. Der wird selbst zum Rassisten, zur Rassistin. Ohne es zu merken.

Denn alle Geschlechter und Farben, deren Wandlungen und Verwirrungen ein Mann namens Shakespeare und eine Frau namens Virginia Woolf wechselseitig transgendernd beschrieben haben, gehören zur selben Spezies. Sind nicht Fremde. Sondern nur Menschen.

Würde ein Außerirdischer hier landen und jetzt angesichts von Klimawandel, Kriegen, Hunger und Seuchen die Themen und Heftigkeit der jüngsten Unkultur-Debatten erleben, er würde sich fragen: Haben diese Menschen nichts Wichtigeres? Oder sind alle gerade wahnsinnig geworden?

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