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Gemeinsame Trauer: Vor dem Restaurant La Carillon im 10. Arrondissement, einem der Tatorte in Paris, versammelten sich nach den Attentaten viele Menschen.

© Benoit Tessier/Reuters

Nach dem Terror von Paris: Wenn das Alltägliche plötzlich entstellt ist

Wie soll nach den Anschlägen in Paris wieder Normalität einkehren? Man muss dem gewohnten Ablauf des Lebens folgen. Doch die Erschütterung reicht bis nach Berlin. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Pascale Hugues

Vor ein paar Tagen höre ich abends Detonationen. Ich stürze auf den Balkon. Ich bin nicht die Einzige. Auch meine Nachbarn stehen am Fenster. Die Herzen schlagen uns bis zum Hals. Wir schnappen nach Luft. Eine Bombenexplosion in Berlin? Das ist unser erster Gedanke. Bis wir merken, dass es ein Feuerwerk ist. In der Ferne sehen wir am schwarzen Himmel den Funkenregen. Also ist jemandem heute nach Feiern zumute? Wir schließen die Fenster wieder und schämen uns ein bisschen wegen dieser hysterischen Aufwallung.

Hysterisch? Werden die Attentate von Paris unser entspanntes Leben in den Städten verändern? In den vergangenen Tagen ist unsere gewohnte Umgebung plötzlich suspekt geworden. Ein Martinshorn? Das Blaulicht eines Polizeiautos? Ein verlassener Koffer auf einem Bahnsteig? Ein schwer bewaffneter Polizist, der vor einem öffentlichen Gebäude auf und ab geht? Lauter mögliche Beweise, dass die Kämpfer des „Islamischen Staates“ auch das Herz von Berlin getroffen haben könnten.

Ein Brot beim Bäcker kaufen, die Straße überqueren, um sich in sein Lieblingscafé zu setzen – in Paris sind das seit einer Woche keine harmlosen Aktivitäten mehr, die man gewohnheitsmäßig ausführt, ohne sich groß den Kopf zu zerbrechen. Nein, wenn man aus dem Haus geht und sich in den öffentlichen Raum begibt, setzt man sich einer diffusen, aber realen Gefahr aus.

Die Terroristen haben nach dem Zufallsprinzip in einigen am Freitagabend gut besuchten Cafés und Restaurants zugeschlagen, und im Bataclan, einem der legendären Konzertsäle in Paris. Stellen Sie sich einen Anschlag auf das Berghain oder den Frannz Club vor. Maschinengewehrsalven im Borchardt oder in Cafés in Prenzlauer Berg? Schwer zu glauben, dass unser so ruhiges, so verregnetes und so provinzielles Berlin zur Zielscheibe derartiger Gewalt werden könnte. Und doch – sind wir hier noch sicher?

Wie nach den Bombennächten im Krieg

Meine alten Nachbarn hier haben mir oft von den Bombennächten im Krieg erzählt. Die Sirenen heulten, „Christbäume“ fielen vom Himmel, um die Ziele zu auszuleuchten. Man hatte Zeit, aus dem Bett zu springen, nach dem bereitstehenden Koffer mit den Dokumenten und dem Geld zu greifen und in den Keller zu eilen. Ein paar Stunden später, so erzählten mir die Nachbarn, kamen wir aus unseren unterirdischen Höhlen, wir sahen nach, was zerstört worden war, und das Leben ging weiter, bis zum nächsten Alarm.

Die Terroristen geben keine Vorwarnung. Keine Sirene. Keine Christbäume. Das ist eine andere Art „Krieg“, wie Frankreichs Präsident François Hollande es sofort genannt hat. Die Angriffe zielen auf das Herz der Stadt, auf Orte, die von vielen, vor allem jungen Menschen besucht werden. Man sitzt mit Freunden abends auf einer Caféterrasse, man trinkt etwas, und bevor man es begreifen kann, findet man sich in einer Blutlache. Der islamistische Terrorismus ist jäh, unvorhersehbar. Man kann sich nicht schützen. Man ist zur falschen Zeit am falschen Ort.

Man muss bis zu einem gewissen Grad vergessen

Eine Gemeinsamkeit gibt es: Am Tag darauf müssen die Menschen ihr Leben weiterführen, müssen das Haus verlassen, so tun, als wenn nichts wäre, man muss bis zu einem gewissen Grad vergessen, um sich nicht von der Angst lähmen zu lassen. „Tous au bistrot!“, „Alle ins Bistro“, lautet der Kampfruf in den sozialen Netzwerken in Paris. Am Dienstagabend forderten die Initiatoren die Pariser auf, die Straße zu überqueren, um in ihrer Lieblingskneipe etwas zu trinken.

Eine symbolische Geste, um zu zeigen, dass die Angst in den Bars, den Café und Restaurants, diesen Hochburgen der französischen Kultur und des gesellschaftlichen Lebens der Stadt, nicht die Oberhand gewinnen wird. Man muss dem „normalen“ Ablauf des Lebens folgen. Doch das Alltägliche ist plötzlich entstellt, nicht mehr wiederzuerkennen.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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