zum Hauptinhalt
Will die Einstellung zur Außen- und Sicherheitspolitik in der SPD ändern: Parteichef Lars Klingbeil.

© Fabian Sommer/dpa

Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik: Die SPD will jetzt Uniformen lieben

In einer Grundsatzrede zur Zeitenwende fordert Lars Klingbeil überraschenderweise eine neue Führungsrolle für Deutschland. Der SPD-Vorsitzende traut sich 'was.

Von Hans Monath

Darf sich der Vorsitzende der SPD positiv auf einen der Gründungsväter der kommunistischen Partei Italiens beziehen? Lars Klingbeil jedenfalls zeigte keine Berührungsängste, als er am Dienstag seine Berliner Grundsatzrede zur Außen- und Sicherheitspolitik mit der Feststellung Antonio Gramscis begann, wonach in einer Krise das Alte nicht mehr da sei, das Neue aber noch nicht begonnen habe.

Womöglich war der Hinweis auf Gramsci auch ein Stilmittel des 44-jährigen Parteichefs, um seinen Gedanken eine gewisse historische Tiefe zu geben.

[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]

Was in dem Vortrag mit dem Titel „Zeitenwende – der Beginn einer neuen Ära“ vor der Tiergartenkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung dann folgte, war der Versuch, für die eigene Partei teils schmerzhafte, teils mutige Lehren aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine zu ziehen, der seit dem 24. Februar die ganze Welt verändert.

„Ich vermute, einige hier im Raum sind jetzt alarmiert“, sagte Klingbeil nach etwa einem Drittel seiner Rede. Denn da hatte er schon Thesen in die Welt gesetzt, die wohl nur wenige einem Vorsitzenden der Sozialdemokraten zugetraut hätten.

„Müssen den Anspruch einer Führungsmacht haben“

Etwa den Gedanken, Führung von Deutschland zu verlangen. Klingbeil beanspruchte ausdrücklich eine neue Vorreiterrolle angesichts der dramatischen Vorgänge in Europa.

„Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem“, meinte er. Es müsse „den Anspruch einer Führungsmacht haben“. Damit sei nicht gemeint, „breitbeinig oder rabiat“ aufzutreten.

Diese neue Rolle werde harte finanzielle und politische Entscheidungen erfordern. Als Führungsmacht müsse Deutschland auch ein souveränes Europa massiv vorantreiben.

Hat als Erster die "Zeitenwende" nach Ausbruch des Krieges ausgerufen: Kanzler Olaf Scholz (SPD).
Hat als Erster die "Zeitenwende" nach Ausbruch des Krieges ausgerufen: Kanzler Olaf Scholz (SPD).

© Michael Kappeler/dpa

Das war aber nicht die einzige Zumutung für eher traditionell denkende Sozialdemokraten. Denn der Parteichef und Sohn eines Soldaten, wie er anmerkte, sprach sich für ein neues, positives Verhältnis zur Bundeswehr aus.

Er wünsche sich, dass die Deutschen „eine neue Normalität“ im Umgang mit den Streitkräften entwickelten, die in den öffentlichen Debatten in der Zeit vor Ausbruch des Krieges immer weiter in den Hintergrund gerückt sei. Es sei Zeit, „denen Respekt und Anerkennung zu zollen, die ihren Dienst für unser Land leisten, die bereit sind, bis ans Äußerste zu gehen“.

Das Verhältnis der SPD zur Bundeswehr war vor dem 24. Februar und erst recht vor Bekanntwerden des Koalitionsvertrages Ende 2021 von großen Spannungen geprägt gewesen. Die Parteikultur der „Friedenspartei“ SPD galt als eher militärkritisch.

In der Truppe war es nicht gut angekommen, dass die SPD jahrelang die Anschaffung von Kampfdrohnen zum Schutz der Soldaten bei Auslandseinsätzen verhinderte und sich nicht klar zur Anschaffung moderner Kampfflugzeuge im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ bekannte. Beide Punkte klärte erst der Koalitionsvertrag.

Nicht das Reden über Krieg führe zum Krieg

„Wir brauchen eine völlig andere sicherheitspolitische Debatte in Deutschland“, konstatierte der SPD-Politiker. Friedenspolitik bedeute, „auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen“.

Nicht das Reden über Krieg führe zum Krieg: „Das Verschließen der Augen vor der Realität führt zum Krieg.“ Der SPD-Chef erinnerte daran, dass zu Zeiten der Ostpolitik von Willy Brandt und dann Helmut Schmidt der Verteidigungsetat drei Prozent der Wirtschaftsleistung betragen habe.

Auch mit Fehlern ging Klingbeil ins Gericht. Die Deutschen hätten es sich „in dieser Welt zu bequem eingerichtet“, monierte er: „Wir haben verkannt, dass sich die Dinge längst anders entwickelten.

Die Signale aus Russland hätten wir anders sehen müssen.“ Speziell für die deutschen Sozialdemokraten gelte: „Im Umgang mit unseren ost- und mitteleuropäischen Partnern haben wir Fehler gemacht.“

Uniformträger sollen in der Gesellschaft wieder mehr geschätzt werden, wenn es nach Lars Klingbeil geht. Hier Kanzler Olaf Scholz im Kosovo mit Bundeswehrsoldaten.
Uniformträger sollen in der Gesellschaft wieder mehr geschätzt werden, wenn es nach Lars Klingbeil geht. Hier Kanzler Olaf Scholz im Kosovo mit Bundeswehrsoldaten.

© Michael Kappeler/dpa

Als Beleg für die These erzählte er von seinem Reflex, die Warnung nach Berlin gekommener litauischer Sozialdemokraten vor einem Angriff Putins auf ihr Land zunächst abzutun, bevor er umdachte.

„Wenn wir aus den baltischen Staaten oder Polen hören, dass sie Angst davor haben, die nächsten Ziele Russlands zu sein, dann müssen wir das ernst nehmen“, verlangte er. Man habe auf Warnungen aus Osteuropa vor Russland zu wenig gehört. Nun wolle er nach Litauen und Polen reisen.

Klingbeil will Russlandpolitik kritisch aufarbeiten

Klingbeil distanzierte sich nicht von der in der Partei hoch geschätzten Ostpolitik, auch nicht von deren zweiter Phase, in der Menschenrechte der Stabilität geopfert worden waren. „Ich bin stolz auf die Ostpolitik von Willy Brandt“, sagte er.

Kürzlich hatte er angekündigt, im Zuge der Arbeit an einem neuen internationalen Programm die Russlandpolitik der SPD kritisch aufzuarbeiten.

Ein anderes für viele Sozialdemokraten kritisches Thema mied er. Experten fordern, über gemeinsame deutsch-französische nukleare Abschreckungskapazität nachzudenken, um Europas sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA zu verringern.

Klingbeil, der wenigstens auf die noch am Anfang stehende Debatte hätte hinweisen können, ging auf die in der SPD umstrittene „nukleare Teilhabe“ Deutschlands nicht ein.

Der Sozialdemokrat hatte sich intensiv auf die Rede vorbereitet und in Brüssel, Stockholm, Bommersvik, Lissabon und Madrid mit Sozialdemokraten sowie Experten von Thinktanks gesprochen. Seine Thesen bezeichnete er ausdrücklich als Anstoß für eine weitere Auseinandersetzung: „Ich will die Debatte.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false