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Wer aufsteigt, wer absteigt.

© imago images/Ikon Images

Die Angst vor dem Abstieg ist unnötig: Was ist dran an der bröckelnden Mittelschicht?

Die oberen Einkommen legen mehr zu als die unteren. Daraus ergibt sich eine statistische Armutsgefährdung, die im Alltag kaum erlebt wird. Ein Gastbeitrag.

Holger Lengfeld lehrt Soziologie an der Universität Leipzig und ist Mitglied des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Florian Kley ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Leipzig.

Die Mittelschicht in Deutschland bröckelt, und die Gefahr zu verarmen steigt. Diese Botschaft ist immer wieder zu hören, und sie scheint für fast alle wichtig zu sein, denn drei Viertel aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zählen sich zur Mitte.

In Corona-Krisenzeiten können alarmierende Nachrichten wie diese die Bevölkerung verunsichern und politische Forderungen nach sozial- und steuerpolitischer Unterstützung der Mitte herausfordern, was gerade zu Beginn einer neuen Regierungsperiode von besonderer Bedeutung ist.

Doch was ist dran an der Diagnose der bröckelnden Mitte? Die neueste Studie, die das belegen soll, ist 144 Seiten stark und wurde von der internationalen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Kooperation mit der Bertelsmann-Stiftung erstellt. Auf der Internetseite der Bertelsmann-Stiftung kann man eine kurze Zusammenfassung auf Deutsch lesen.

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Ob jemand der Mittelschicht angehört, wird in der Studie über das verfügbare Einkommen eines Haushalts bestimmt, eine in der Wirtschaftswissenschaft gängige Praxis. Verfügbar bedeutet, dass Steuern und Abgaben heraus- und Zusatzeinkünfte sowie staatliche Transferzahlungen hinzugerechnet werden.

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Auch die Zahl der Haushaltsmitglieder wird berücksichtigt, denn je größer der Haushalt, desto mehr Menschen müssen von dem Einkommen leben. Wer zwischen 75 und 200 Prozent des so bestimmten deutschen Durchschnittseinkommens hat, gehört nach dieser Studie zur Mitte.

Die eigentliche Schrumpfung fand Anfang der 2000er Jahre statt

Das Hauptergebnis der Studie ist nun: Im Zeitraum von 1995 bis 2018 ist die Mittelschicht von 70 auf 64 Prozent der Bevölkerung geschrumpft. Im gleichen Zeitraum ist die Schicht der von Armut Bedrohten von sieben auf zehn Prozent angewachsen. Muss sich die gesamte Mittelschicht nun große Sorgen machen? Nein.

Die Mitte umfasst weiterhin den größten Teil der Bevölkerung. Sie ist binnen 23 Jahren nicht massiv, sondern nur um sechs Prozentpunkte geschrumpft. Wichtiger aber ist: Die eigentliche Schrumpfung fand schon vor längerer Zeit statt, nämlich zu Beginn der 2000er Jahre. Seit 2005 schrumpft nichts mehr.

Das Bröckeln der Mitte fiel in die Zeit hoher Arbeitslosigkeit und der Einführung der „Hartz“-Reformen am Arbeitsmarkt, also in einer erkennbar schwierigen wirtschafts- und sozialpolitischen Lage. Die hatte sich aber bereits seit 2007 zum besseren geändert.

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Dazu kommt: Die Schrumpfung betraf nicht die gesamte Mitte. Unterscheidet man die Mitte in einen unteren, mittleren und oberen Teil, so sieht man, dass vor allem die untere Mitte (75 bis 100 Prozent des Durchschnittseinkommens) geschrumpft ist. Die mittlere und obere Mitte dagegen nicht.

Allerdings sagt die neue Studie auch, dass seit 1995 alle Einkommensschichten an Wohlstand hinzugewonnen haben, einschließlich der unteren Mitte und seit jüngerer Zeit auch der unteren Schicht. Wie kann es sein, dass es Abstiege aus der Mitte gibt, wenn gleichzeitig alle mehr haben? Die Ursache liegt in der gestiegenen Einkommensungleichheit in Deutschland.

Die Einkommen steigen - und damit die Schwelle zur Armutsgefährdung

Wie eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin von 2020 zeigt, haben die Einkommen der mittleren und der oberen Mitte sowie die der Oberschicht seit dem Jahr 2000 stärker zugelegt als die der unteren Mitte und der unteren Schicht. Damit steigt auch der statistische Schwellenwert an, ab dem man zur Mitte zählt.

Paradoxerweise können also einige aus der unteren Mittelschicht in die Zone der Armutsgefährdung rutschen, obwohl sie mehr als je zuvor im Portemonnaie verfügbar haben. Für Viele dürfte dieser „statistische Abstieg“ folgenlos bleiben, denn ihre Lebensumstände haben sich ja nicht verschlechtert.

Die Studie von OECD und Bertelsmann beklagt zudem, dass die Mittelschicht nach der Schrumpfung nicht wieder gewachsen ist, und das, obwohl die Wirtschaft nahezu stetig gewachsen ist. Dies zu erwarten ist allerdings auch ziemlich unrealistisch. Seit Jahren gilt, dass höhere berufliche und akademische Qualifikationen von den Unternehmen am Arbeitsmarkt stärker nachgefragt werden als einfache Qualifikationen. Die höher qualifizierten Beschäftigten erhalten daher auch vergleichsweise größere Einkommenszuwächse.

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Um das auszugleichen, müsste, grob gesagt, die Hälfte der Bevölkerung mit den niedrigeren Einkommen größere relative Lohnzuwächse haben als die in der oberen Einkommenshälfte. Der Lohn eines Paketausfahrers beispielsweise müsste prozentual stärker steigen als der einer Ärztin. Dass dies nicht geschehen ist, ist in der Forschung seit langem bekannt. Selbst die von der neuen Ampel-Regierung geplante Erhöhung des Mindestlohns dürfte vermutlich nicht ausreichen, um die Mittelschicht nennenswert anschwellen zu lassen.

Zweifellos präsentiert die Studie wissenschaftlich solide Befunde. Umso mehr kann man es fragwürdig finden, dass es die These der Schrumpfung der Mittelschicht dennoch in die breite Öffentlichkeit schafft – wozu der Titel der Studie „Bröckelt die Mittelschicht?“ beigetragen haben dürfte.

Anscheinend wurde getreu dem Grundsatz „Bad News is Good News“ der Eindruck einer akuten Gefährdung der Mittelschicht erzeugt, der zeitlich überholt ist. Das ist nicht gut und kann auch das Vertrauen in die Wissenschaft insgesamt in Zweifel ziehen.

Die Abstiegsangst ist gesunken

Die Mittelschicht selbst zeigt sich von diesen Schlagzeilen kaum beeindruckt. Darauf deuten Dauerbeobachtungen zur Abstiegsangst in Deutschland hin, die wir an der Universität Leipzig seit Jahren durchführen. Sie belegen, dass die Abstiegsangst im gleichen Zeitraum, den die OECD-Studie untersucht hat, stark abgesunken ist, nach einem steilen Anstieg in den 1990er Jahren.

2018 sorgten sich sogar weniger Menschen vor dem sozialen Abstieg als jemals zuvor seit der Wiedervereinigung. Dies gilt für Menschen aus allen Schichten in ähnlicher Weise.

Zwar stimmt die langfristig gewachsene Ungleichheit in Deutschland nachdenklich, und dabei besonders die ungleiche Verteilung der Vermögen. Statt um die Mittelschicht sollte man sich aber eher um die Zone der verfestigten Armut in der untersten Einkommensschicht Sorgen machen. Aus dieser Armutslage herauszukommen und besonders den Kindern aus Haushalten mit besonders geringem Einkommen Ausstiegschancen zu ermöglichen, ist ein großes sozialpolitisches Problem.

Immerhin zeigen jüngste Forschungen, dass die Corona-Krise nicht zu einer weiteren Verschärfung der Ungleichheit zu führen scheint. Dennoch wissen wir nicht, was die Zukunft bringt. Daher ist die wissenschaftliche Beobachtung der Mittelschicht weiterhin wichtig. Genauso wichtig ist es, darüber zu informieren – sachlich, nüchtern und ohne Übertreibungen.

Holger Lengfeld, Florian Kley

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