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Ein Mund-Nasen-Schutz wird vom Wind über den Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor geweht.

© dpa / Kay Nietfeld

Was im Herbst und Winter wichtig wird: Wie drastische Corona-Maßnahmen bis hin zum Shutdown verhindert werden können

Die Neuinfektionen nehmen zu, bestimmte Indikatoren geben Orientierung, wie dramatisch die Lage ist. Wie sich drastische Maßnahmen trotzdem verhindern lassen.

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Den Herbsturlaub in Deutschland zu verbringen, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in der vergangenen Woche empfohlen – oder in europäischen Regionen mit geringen Infektionszahlen, wie etwa Italien.

Schon einige Tage später scheint das für Berlinerinnen und Berliner gar nicht mehr so einfach planbar zu sein: So müssen Menschen, die aus Coronavirus-Risikogebieten im Inland kommen, sich in Schleswig-Holstein für 14 Tage in Quarantäne begeben – inzwischen gilt das auch für Einwohner der Berliner Bezirke Mitte, Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg.

Ausschlaggebend für diese Einstufung sind die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI), wie viele von 100.000 Menschen in den einzelnen Landkreisen, kreisfreien Städten und eben Berliner Bezirken sich innerhalb von sieben Tagen mit dem Coronavirus infiziert haben: Liegt dieser Wert über 50, gelten sie als Risikogebiete.

Nach eigenen Zählungen des Tagesspiegels, der die Meldungen durch die Gesundheitsämter etwas schneller auswertet als das RKI, überschritten am Wochenende zeitweise auch Tempelhof-Schöneberg und Charlottenburg-Wilmersdorf schon den Wert von 50. Die Bundesländer ziehen aus den Zahlen sehr unterschiedliche Konsequenzen: Berlin und Rheinland-Pfalz zum Beispiel haben die Quarantänepflicht für Menschen aus Risikogebieten am Wochenende gerade erst aufgehoben.

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Neben Mahnungen zu den Schutzmaßnahmen gegen das Virus erklären Politiker und Mediziner immer wieder, dass ein weiterer strenger Lockdown und Ausgangssperren wahrscheinlich nicht notwendig seien – auch RKI-Präsident Lothar Wieler hält die Lage für beherrschbar und erzählte, er fahre in Berlin täglich S-Bahn.

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Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hatte vor dem letzten Gespräch von Bundesregierung und Bundesländern gefordert, zur Risikobewertung nicht nur die Zahl der Neuinfektionen zu berücksichtigen, sondern auf Grundlage der Krankenhauskapazitäten, des Anteils zurückverfolgbarer Infektionen und der Quote positiver Ergebnisse aus allen Tests ein einheitliches Ampel-Modell zu entwickeln, wie Berlin und Österreich es schon nutzen.

Einig wurden sich Bund und Länder dann allerdings zunächst nur darüber, „ein geeignetes Frühwarnsystem“ einzurichten, das ein Überschreiten der Sieben-Tages-Inzidenz von 50 vermeiden helfen soll.

Welche Indikatoren sind für ein Frühwarnsystem geeignet?

Die Basis aller wichtigen Werte und Berechnungen – dazu gehören auch der sogenannte Reproduktionswert und die Verdopplungszeit – ist die Zahl der positiv auf Sars-CoV-2 getesteten Neuinfizierten, die die Gesundheitsämter täglich melden. Entscheidend für die Einschätzung der Dynamik der Pandemie und wann sie außer Kontrolle zu geraten droht, ist aber jedoch, wie schnell es in einer Region immer mehr Infizierte werden.

„Alle anderen Kennzahlen sind mit einer Verzögerung verbunden, also beispielsweise Krankenhausaufnahmen oder auch R-Wert-Schätzungen“, sagt Mirjam Kretschmar, wissenschaftliche Leiterin für mathematische Krankheitsmodellierung an der Universität Utrecht.

Die Verdopplungszeit, die anzeigt, in welcher Zeitspanne sich die Zahl der Neuinfektionen verdoppelt, ist bei starkem Infektionsgeschehen aussagekräftig. In Deutschland beträgt sie momentan 90 Tage – für Berlin allerdings nur noch 45.

„Außer Kontrolle“ gerät die Pandemie bereits lange, bevor sich die Kliniken füllen: Wenn die Gesundheitsämter die Kontakte von Infizierten nicht mehr hinreichend nachverfolgen und isolieren können. Das gehe in der Diskussion bislang unter, meint Kai Nagel, Mobilitätsforscher an der Technischen Universität Berlin.

Im Projekt „Modus-Covid“ – „Modellgestützte Untersuchung von Schulschließungen und weiteren Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19“ – stellt der Physiker seine Computermodelle in den Dienst des Infektionsschutzes: Sie simulieren Bewegungen und Kontakte von Menschen in Bussen und Bahnen, am Arbeitsplatz oder in Schulen.

Die entscheidende Frage sei, wann Gesundheitsämter damit überfordert sind, die Kontakte der als infiziert identifizierten Menschen möglichst binnen eines Tages zu ermitteln und unter Quarantäne zu stellen.

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Zwar gebe es dafür keine klare, allgemeingültige Grenze, da dies auch mit Ausstattung und Organisationsstruktur der Behörden zusammenhänge. Doch Nagel schätzt, dass Gesundheitsämter bereits überfordert sind, wenn die bisher für politisches Handeln geltende Grenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen erreicht ist.

Umgerechnet bedeute das, dass bei Berliner Ämtern pro Tag, vorsichtig geschätzt, etwa 250 neue Fälle auflaufen. Jeder Einzelne davon hatte erfahrungsgemäß zwischen 10 und 100 Kontakte in der infektiösen Phase seiner Erkrankung. „Das heißt, die Gesundheitsämter haben genau einen Tag Zeit, um diese 2500 bis 25.000 Kontakte zu erreichen und Quarantäne zu verordnen, denn am nächsten Tag müssen sie schon wieder die nächsten 2500 bis 25.000 Kontakte finden“, sagt Nagel.

„Mir erscheint das viel und ich glaube nicht, dass das geleistet werden kann.“ Werden die Kontakte nicht rechtzeitig erreicht, stecken infizierte Menschen weitere an.

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Dann steigt der R-Wert, der das Maß für die Menge der Menschen ist, die ein Infizierter ansteckt, und die Neuinfektionsrate steigt exponentiell. Dann könne man „nur noch mit relativ drastischen Einschränkungen gegensteuern“, sagt Nagel. Die Aus- oder drohende Überlastung der Kontaktnachverfolgung wäre also ein Indikator, der frühzeitig Handlungsbedarf anzeigen kann.

Dafür müsse man messen, wie schnell die Gesundheitsämter jeden Kontakt eines Infizierten in dessen infektöser Phase im Durchschnitt erreicht haben. Dauert das mehrere Tage, funktioniere die Kontaktverfolgung nicht mehr. Das macht deutlich, dass politisch angeordnete Kontaktbeschränkungen nicht nur das direkte Ansteckungsrisiko minimieren sollen – sondern auch dazu dienen, die Kontakte einfacher zu verfolgen.

Die Kapazitäten der Testlabore könnten ebenfalls als Frühwarnsystem dienen, sagt Nagel: „Die Labore dürfen nicht ausgelastet sein, weil sonst Tests auf den nächsten Tag verschoben werden und dann haben wir bald das gleiche Problem.“

Sind Hospitalisierungs- und Sterberate von Erkrankten ein sinnvolles Kriterium?

„Das ist schlicht und ergreifend viel zu spät“, sagt Nagel: „Wenn es darum geht, die Infektionszahlen unter Kontrolle zu halten, dann kann man nicht erst warten, bis die Krankenhäuser zur Hälfte voll sind, bevor man etwas unternimmt.“ Dieser Ansicht ist auch Rafael Mikolajczyk, Direktor des Instituts für Medizinische Epidemiologie der Universität Halle-Wittenberg: Die Kapazität an Intensivbetten sei „nur von theoretischer Bedeutung, denn der Überlastung des Gesundheitssystems geht der Verlust der Kontrolle der Epidemie voraus“, ihre Eindämmung müsse früher einsetzen, durch „Einschränkung von Treffen größerer Gruppen (vor allem, wenn sich unbekannte Menschen treffen), Ausdehnung der Maskenpflicht, bessere Einhaltung der Abstände und der Empfehlungen zur Lüftung.“

Welche frühen Maßnahmen verhindern drastischere?

Die Bundeswehr zur Kontaktnachverfolgung einzusetzen, hält Nagel sowohl für möglich als auch für sinnvoll. „Aber die Leute müssen natürlich geschult werden, und zwar schon jetzt.“ Eine andere Möglichkeit wäre eine „Cluster-Strategie“ bei der Kontaktnachverfolgung, die der Charité-Virologe Christian Drosten vorgeschlagen hat.

Denn Sars-CoV-2 wird vor allem über Superspreading-Ereignisse verbreitet: 80 Prozent der Sekundärinfizierten werden von weniger als zehn Prozent der Infizierten angesteckt. Oder anders gesagt: Die meisten Infizierten stecken niemanden an, einige wenige aber Dutzende und lösen so Infektionscluster aus. Die Kennzahl dafür ist der Dispersionswert „k“: Je kleiner „k“, umso stärker verbreitet sich ein Erreger über Superspreader.

Bei Influenza liegt er bei 1, also kaum Superspreading, Sars-CoV-2 hat ein „k“ von 0,1, schätzt ein Forschungsteam um Sebastian Funk an der London School of Hygiene. Drosten zufolge sollten sich mit der Nachverfolgung überforderte Gesundheitsämter notfalls auf diese Fälle konzentrieren.

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Wann werden drastische Maßnahmen wie Ausgangssperren nötig?

„Das wird hoffentlich nicht nötig sein“, meint Nagel. „In unseren Simulationen finden wir konsistent, dass ein kompletter Shutdown nicht viel besser wirkt als eine gezielte Verdünnung der Personendichten.“ So reduziert etwa das Schließen einer Schule Kontakte nicht sehr viel mehr, als wenn die Schüler am Platz Maske tragen, häufig gelüftet wird und alternierend Präsenzunterricht und Homeschooling praktizieren, so dass sich nur die Hälfte der Lehrenden und Lernenden trifft.

„Natürlich sind das nur Modellrechnungen, aber wir sind uns da ziemlich sicher“, sagt Nagel. Ähnliches gelte für Büros: Solange am Arbeitsplatz Maske getragen wird, Großraumbüros gut belüftet würden und ein Teil der Mitarbeitenden im Homeoffice bleibe, reiche das aus. „Für die Bereiche Erziehung und Ausbildung, Arbeiten, öffentlicher Verkehr und Freizeitveranstaltungen an frischer Luft gibt es einen Katalog von Maßnahmen, mit denen sich der Beitrag zum Infektionsgeschehen minimieren lässt“, sagt Nagel.

Probleme sieht Nagel vor allem bei Restaurants, Kneipen und Bars, Familienfeiern und gegenseitigen Besuchen, „etwa Dinner-Partys“. Dabei sei weniger die Anzahl der Personen entscheidend, sondern die Dichte – wie viele Menschen sich pro Quadratmeter nahekommen. In Restaurants könne man solche Regeln durchsetzen, aber im Privaten nicht mehr als appellieren: „Nicht mehr als sechs Leute im 30 Quadratmeter-Wohnzimmer.“ Im aktuellen Bericht des „Modus“-Projekts betont Nagel, dass die Schutzmaßnahmen „nicht linear“ wirken: „Möglichst viele Maßnahmen, die eventuell nicht perfekt durchgesetzt werden, helfen besser, als wenige perfekt durchgesetzte."

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