zum Hauptinhalt
Ein zehn Jahre altes Mädchen steht in abgetragener Kleidung ohne Schuhe in einem Hinterhof in Hamburg

© picture alliance / Christian Hager / dpa

Jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut betroffen: Warum bekommt die Politik das Problem nicht in den Griff?

Seit Jahren investiert die Politik viel Geld in die Bekämpfung von Kinderarmut - und bewirkt doch wenig. Was muss jetzt geschehen?

Es ist ein andauernder Skandal, an dem alle guten Absichten und politischen Initiativen der vergangenen Jahre wenig geändert haben: Im reichen Deutschland lebt jedes fünfte Kind in oder nahe der Armut. Daran hat auch der Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre wenig geändert. Eine neue Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung provoziert nun eine Debatte über Wege aus dem Elend.

Was sagt die aktuelle Studie? 

Die Zahlen sind nicht neu. Rund 20 Prozent der Kinder werden in Haushalten groß, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Etwa jedes siebte Kind – fast 14 Prozent – ist auf Hartz IV angewiesen. Neu an der Studie sind die Angaben darüber, was die Abhängigkeit von der Grundsicherung für die Kinder bedeutet – und wo der Mangel im Vergleich zu wohlhabenderen Kindern besonders groß ist.

Die Daten dazu hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ermittelt. So muss fast die Hälfte (45 Prozent) der armen Kinder auf Taschengeld verzichten, aber nur ein Viertel (23 Prozent) des Nachwuchses „normaler“ Familien. Den meisten armen Familien (62 Prozent) fehlen die Mittel für einen Restaurantbesuch im Monat (40 Prozent der übrigen Familien).

Einzelne Einschränkungen mögen belastend sein – in der Summe schränken sie die Teilhabe betroffener Kindern am gesellschaftlichen Leben massiv ein.

Wie hat Corona die Situation verschärft?

Die Eltern benachteiligter Kinder und Jugendlicher trifft die Krise besonders hart: Sie arbeiten häufiger in Teilzeit oder als Minijobber und gehören deswegen zu der Gruppe, die als Erste ihre Jobs verlieren oder vergleichsweise wenig beziehungsweise gar kein Kurzarbeitergeld erhalten. Viele arme Kinder drohten deshalb „durchs Raster zu fallen“, warnt Bertelsmann-Vorstand Jörg Dräger.

Viele Unterstützungsangebote staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Natur konnten während des Corona-Lockdowns nicht fortgesetzt werden. Auch beim Homeschooling seien Kinder aus armen Verhältnissen benachteiligt. Seltener verfügen sie über notwendige technische Voraussetzungen, oft haben sie keinen ruhigen Platz zum Lernen. Fast die Hälfte der Kinder wohnt in einer Wohnung, in der nicht ausreichend Zimmer zur Verfügung stehen.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Was wurde in den letzten Jahren getan? 

Die Politik hat im Kampf gegen Kinderarmut in den vergangenen Jahren viel Geld in die Hand genommen – ohne den Skandal aus der Welt schaffen zu können. Der Bund stellte Milliarden für den Ausbau von Ganztagesbetreuungseinrichtungen zur Verfügung, sodass Alleinerziehende und Mütter mehr Freiraum erhielten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen.

Mit einem Bildungs- und Teilhabepaket versuchte die damalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (2009 bis 13) kostenfreie öffentliche Angebote für Kinder zu implementieren. Allerdings stellte sich heraus, dass viele Berechtigte sie nicht nutzten. Mit dem „Starke-Familien-Gesetz“ weitete die Bundesregierung 2019 den Kinderzuschlag für einkommensschwache Familien aus. Auch viele Bundesländer bemühen sich um Abhilfe, etwa indem sie die Gebühren für öffentliche Betreuungseinrichtungen übernehmen. 

Was hat die Polizei bisher gegen Kinderarmut getan?
Was hat die Polizei bisher gegen Kinderarmut getan?

© Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa

Was müsste geschehen, um die Not der Betroffenen zu lindern? 

Trotz einiger Fortschritte kritisiert Bertelsmann-Vorstand Dräger:„Die Politik tut zu wenig, um Kindern Armut zu ersparen.“ Die Vermeidung von Kinderarmut müsse gerade in der Coronakrise „politische Priorität bekommen“. Die Stiftung fordert „eine transparente und Teilhabe- sichernde finanzielle Leistung für Kinder und Jugendliche, die Armut vermeidet.“ 
Mehrere Bundestagsparteien haben sich bereits für eine Grundsicherung für Kinder ausgesprochen. Auch aus Sicht des Jugendforschers Klaus Hurrelmann wäre ein Kindergrundbetrag sinnvoll. Aktuell würden nämlich etwa Hartz-IV-Empfänger nicht von Erhöhungen des Kindergeldes profitieren.

[Behalten Sie den Überblick in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]

Aus Hurrelmanns Sicht ist es nicht damit getan, dass arme Familien mehr Geld bekommen. „Natürlich besteht die Gefahr, dass in einem armen Haushalt das Geld zuerst dort investiert wird, wo es fehlt und nicht zuerst in den Bildungsprozess der Kinder gesteckt wird.“

Fast noch wichtiger sei deshalb die Qualität der Kindergärten und Schulen zu verbessern. Besonders gefördert werden müssten Schulen in sozialen Brennpunkten. Diese müssten besonders gute Lehrer und eine besonders gute technische Ausstattung bekommen. Hurrelmann plädiert für eine Entbürokratisierung beim Bildungs- und Teilhabepaket. Eltern mit wenig Geld können beispielsweise beantragen, für ihre Kinder Zuschüsse beim Mittagessen zu bekommen. „Die Formulare sind für einige Eltern der Horror“, sagt Hurrelmann. Hier müsse es Automatismen geben, dass die Schulen für alle registrierten benachteiligten Kinder solche Formulare einreichten.

Nur in engster Abstimmung von Familien-, Steuer-, Wohnungs-, Arbeits-, Sozial- und Justizpolitik scheinen Fortschritte möglich. In der in Bezug auf das Kindeswohl modellhaften Stadt Dormagen klappt das offenbar. Dort sorgte ein engagierter Bürgermeister dafür, dass die Behörden Familien kurz nach der Geburt Hilfe anbieten und sich die Politik an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert. Ergebnis: In vielen Kennzahlen steht die Gemeinde besser da.

Wie lässt sich die Not der Kinder lindern?
Wie lässt sich die Not der Kinder lindern?

© Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa

Wie ist die Lage in Berlin? 

In Berlin sind besonders viele Kinder von Armut betroffen: 161319 Kinder gelten hier als arm, das sind 27 Prozent aller Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die Zahl ist zwar hoch, hat sich seit 2014 aber leicht verbessert: Damals waren noch 31,8 Prozent betroffen.

Im April 2017 wurde von der rot-rot-grünen Regierung eine Landeskommission zur Prävention von Kinder- und Familienarmut eingerichtet, um die Situation armutsgefährdeter Familien zu verbessern. Ein Ergebnisbericht liegt noch nicht vor, er soll dieses Jahr erscheinen.

Um den Zugang zu Kitas möglichst früh und niedrigschwellig zu ermöglichen, sind die Berliner Einrichtungen seit 2018 gebührenfrei. Die Bildungsverwaltung verwies am Mittwoch außerdem auf den Ausbau von Familienzentren, einen verbesserten Betreuungsschlüssel in den Kitas und die Ausweitung des Ganztagsschulangebots.
Sowohl Arbeitssenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) als auch Bildungssenatorin Sandra Scheer (SPD) setzen sich für eine Kindergrundsicherung ein, die von den Machern der Studie gefordert wird.

Wo in Europa ist die Lage besser? 

Experte Hurrelmann nennt die Niederlande und Dänemark als Beispiele für Staaten, die besser abschneiden. Diese gäben tendenziell sogar eher weniger Geld in die Familien. „Stattdessen wird darauf geachtet, dass die schwachen Kinder so früh wie möglich eine gezielte Förderung erhalten.“

Auch werde versucht, den Bildungsweg so lange wie möglich offenzuhalten und Kinder nicht schon früh nach unterschiedlichen Schulformen aufzuteilen. Hurrelmanns Schlussfolgerung: „Die besseren Ergebnisse erzielt man, wenn zwar die Eltern unterstützt werden, aber ein bisschen stärker noch die öffentlichen Institutionen. Weil sie alles machen können, was die Eltern nicht schaffen.“ 

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false