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Einen Wahlkreis gewonnen, aber keinen Sitz? Das kann mit dem Ampel-Modell zur Wahlrechtsreform passieren.

© picture alliance/photothek/Florian Gaertner

Wahlrecht mit Widersprüchen: Kommt die Ampel mit ihrer Reform durch?

Der Bundestag soll kleiner werden. Dafür plant die Koalition, nicht mehr alle Direktmandate zu vergeben. Ein Plan mit Haken und Ösen

Angela Merkels Nachfolgerin hätte es nicht geschafft. Anna Kassautzki wäre bei der Bundestagswahl 2021 gekappt worden. Oder, um es analog zum gerade vorgelegten Ampel-Entwurf für die Wahlrechtsreform zu formulieren: Der jungen SPD-Politikerin wäre ihr Direktmandat im Wahlkreis Vorpommern-Rügen, der lange von der Ex-Kanzlerin vertreten worden war, nicht zugeteilt worden.

Hätte die Reform schon damals gegolten, wäre Kassautzki wegen mangelnder „Hauptstimmendeckung“ und aufgrund der verbundenen „Mehrheitsregel“ nicht zum Zug gekommen. Das sind zwei neue Begriffe im Wahlrecht, die zentral für das Ampel-Modell sind, das am Freitag in erster Lesung im Bundestag beraten werden soll. 

In bisherigen Termini bedeutet das, dass die SPD in Mecklenburg-Vorpommern zwei Überhangmandate hatte, weil sie zwar alle sechs Wahlkreise dort gewann, aber nach dem Ergebnis der Zweitstimmen (die nach dem Ampel-Vorschlag nun bald Hauptstimmen heißen sollen) nur einen Anspruch auf vier der insgesamt 13 regulären Direkt- und Listenmandate hatte. 

Im geltenden Wahlrecht werden alle Direktmandate zugeteilt, also auch Überhänge, um dann mittels Ausgleichsmandaten den durch Überhänge verzerrten Zweitstimmenproporz wieder herzustellen. 2021 lautete das Resultat: 736 Abgeordnete. Das sind 138 mehr als die gesetzlich vorgesehene Mindestgröße von 598. 

Die Ampel hat daraus nun die Konsequenz gezogen, so viele Direktmandate für Wahlkreissieger mit schwachen Ergebnissen in Prozent der Erststimmen (künftig Wahlkreisstimmen) nicht zuzuteilen, bis der Parteienproporz stimmt. Die verbundene Mehrheitsregel besagt, dass ein Direktmandat eben erst dann wirklich gewonnen ist, wenn neben dem Wahlkreissieg auch genügend Hauptstimmen für eine Partei abgegeben wurden, um deren Direktmandate komplett zuteilen zu können.

Der zweite Streichkandidat in Mecklenburg-Vorpommern wäre demnach Erik von Malottki gewesen, ein Sozialdemokrat, ebenfalls in einem Wahlkreis im Osten des Landes. Bei der SPD hätte zu den bundesweit elf Wahlkreissiegern ohne Mandatszuteilung auch Sarah Ryglewski aus Bremen gehört, heute Staatsministerin im Kanzleramt. Ex-Verkehrsminister Andi Scheuer wäre im Wahlkreis Passau das prominenteste „Opfer“ in Bayern gewesen. Der frühere Bundesverkehrsminister wäre einer von elf CSU-Leuten, die zwar in ihren Wahlkreisen vorn lagen, denen aber kein Mandat zugeteilt worden wäre. Genauso wäre es zehn CDU-Bewerbern in Baden-Württemberg gegangen.  Aus Sachsen wäre, um das Bild zu vervollständigen, ein AfD-Mann weniger im Bundestag. 

Sieger ohne Mandat: Erik von Malottki von der SPD wäre 2021 nicht in den Bundestag gekommen.

© dpa/Stefan Sauer

In den Fraktionen von SPD, Grünen und FDP überwiegt die Zustimmung zur Wahlrechtsreform deutlich. Malottki allerdings hat angekündigt, dem Gesetz nicht zuzustimmen. Seine Argumentation läuft darauf hinaus, dass die Demokratie an der politischen Basis Schaden nehmen könnte. Denn Nichtzuteilung würde häufig solche Wahlkreise treffen, in denen der Abstand zwischen Siegern und Unterlegenen gering ist, die also auch umkämpft sind, wenn es um das Direktmandat geht. Und das soll ja nicht grundsätzlich abgeschafft werden.

Abschreckend für Kandidaten?

Malottki gibt zu bedenken, dass in potenziellen Nichtzuteilungs-Wahlkreisen ein grundsätzliches Problem auftaucht: „Ich fürchte, dass es schwerer werden würde, hier überhaupt Kandidierende zu gewinnen, wenn die Wahrscheinlichkeit so gering ist, als Sieger überhaupt ins Parlament zu kommen.“ 

Über die Landesliste Kandidaten in solchen Wahlkreisen abzusichern, funktioniert bei Überhangsituation nicht – die Liste zieht dann nicht mehr. Das hat Folgen. 2021 hätte nach dem Ampel-Modell die CSU 2021 kein Großstadtmandat mehr gehabt. Potenziell kann Nichtzuteilung auch dazu führen, dass geschlossene Regionen, also mehrere zusammenhängende Wahlkreise, ohne Direktmandat bleiben. 

Die Unions-Fraktion im Bundestag ist alles andere als glücklich mit dem Ampel-Vorschlag. In der CSU-Landesgruppe sieht man sich als Hauptopfer der Reform, hat empört reagiert und wähnt eine vorsätzliche Benachteiligung. Mit Blick auf die Vertretung der Partei im Bundestag stimmt das allerdings nicht. Denn das Ampel-Modell kappt zwar Direktmandate, trifft also individuelle Bewerberinnen und Bewerber, aber betont die Verhältniswahl – die CSU würde wie alle Parteien ihrem Hauptstimmenanteil gemäß im Bundestag vertreten sein. Wohl aber fehlen mögliche Vorteile, welche die CSU bisher nutzen konnte, etwa dadurch, dass nach dem aktuellen Wahlrecht drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden.

Gegenvorschlag der Union

Aber auch in der CDU gibt es Unmut, weshalb Fraktionschef Friedrich Merz der Ampel einen Gegenvorschlag gemacht hat. Er sieht vor, im bestehenden Wahlsystem zu bleiben, also Überhänge durch Ausgleichsmandate zu kompensieren, aber dennoch zu einer kleineren Bundestagsgröße zu kommen. Das soll vor allem durch eine kleinere Wahlkreiszahl (270 statt 299), mehr Listenmandate und 15 unausgeglichene Überhänge gelingen. Die Ampel-Fraktionen haben den Vorstoß erst einmal abgelehnt.

Wird die Unions-Fraktion in Karlsruhe klagen, wenn die Koalition hart bleibt und nirgends entgegenkommt? Ein Viertel der Bundestagsabgeordneten ist nötig, um einen Normenkontrollantrag einzubringen. Das sind 184. CDU und CSU haben 197 Sitze. Sie müssten sich also recht einig sein. Während die CSU als unbedingt klagewillig gilt, ist das bei der CDU so klar noch nicht.

Die CSU – empört, aber gar nicht so betroffen?

Schon kleine Bewegungen beim Wahlergebnis können große Wirkungen haben, was die Nichtzuteilung von Direktmandaten betrifft. Nach einer Berechnung des Wahlinformationsdienstes „election.de“ für den Tagesspiegel auf Basis aktueller Umfragen würden der CSU nur noch fünf Direktmandate genommen (einerseits wegen einer mit gut 35 Prozent deutlich besseren Hauptstimmenprognose im Vergleich zum Ergebnis von 2021, als sie nur auf knapp 32 Prozent kam, und andererseits wegen zweier Direktmandate der Grünen in München). Schneidet sie noch besser ab bei der nächsten Wahl, könnte sich das bayerische Problem schon erledigt haben.

Schön ist der Entwurf nicht, aber verfassungsfest.

Sophie Schönberger, Rechtsprofessorin

Andere aber könnten dann empört sein. Bei der CDU wären es nach der aktuellen Lage 17 Direktbewerber, die gekappt würden, davon neun in Baden-Württemberg und vier in Rheinland-Pfalz. Bei der Wahl 2021 waren es insgesamt zwölf. Auch die SPD muss damit rechnen, dass das eigene Modell mehr als die elf Direktmandate kostet, die 2021 nicht zugeteilt worden wären. Unter Umständen sogar, weil sie besser abschneidet. Selbst die Grünen könnten in den Stadtstaaten oder Baden-Württemberg die Problematik des eigenen Reformvorschlags spüren.

Innere Widersprüche

Würde das Ampel-Modell in Karlsruhe scheitern, sollte die Union klagen? Innere Widersprüche hat der Vorschlag zweifellos. Einerseits wird im Paragrafen 1 des Entwurfs postuliert, dass die „Grundsätze der Verhältniswahl“ gelten. Von „Personalwahl“ als zusätzlichem Element ist nicht mehr die Rede wie bisher im Gesetz. Andererseits aber geht aus dem Paragrafen 6 eindeutig hervor, dass weiterhin Personalwahl in Wahlkreisen stattfindet.

Die Düsseldorfer Rechtsprofessorin Sophie Schönberger sagte dem Tagesspiegel: „Schön ist der Entwurf der Ampel zwar nicht. Inhaltlich ist er aber verfassungsfest und dürfte vor dem Bundesverfassungsgericht nicht scheitern.“

Sinnlose Klausel?

Als kritischen Punkt sieht sie das Weitergelten der Grundmandatsklausel, also jener Regelung, wonach drei gewonnene Direktmandate reichen, um eine Partei auch dann in den Bundestag zu hieven, wenn sie wegen zu wenigen Hauptstimmen an der Fünfprozenthürde gescheitert ist. „Dass die Grundmandatsklausel weiterhin gilt, macht zwar keinen Sinn, wäre aber kein Grund, das neue Wahlgesetz scheitern zu lassen“, meint Schönberger.

Der Heidelberger Verfassungsrechtler Bernd Grzeszick hat mehr Bedenken. Zwar sagt auch er, dass der vorgelegte Gesetzentwurf „nicht mehr so evident verfassungswidrig ist wie frühere Pläne, in denen noch eine Ersatzstimme vorgesehen war“. Mit einer solchen „dritten Stimme“ wollte die Ampel sicherstellen, dass in Nichtzuteilungswahlkreisen dennoch ein Direktbewerber einer anderen Partei in den Bundestag gelangt. Doch hat sie nun Abstand davon genommen.

Bei zwei Stimmen soll es bleiben. Die Erststimme soll aber in Wahlkreisstimme, die Zweitstimme in Hauptstimme umgetauft werden.

© Tagesspiegel/Thilo Rückeis

Für Grzeszick stellt sich dennoch die Frage, ob weitere verfassungsrechtliche Probleme vorhanden sind. Es hänge mit der Bewertung zusammen, „welche Bedeutung die Personalwahl in dem neuen Vorschlag noch hat“. Der Entwurf lasse hier Interpretationsspielraum, sagte der Wahlrechtsexperte dem Tagesspiegel. „Einerseits postuliert er den Übergang zur reinen Verhältniswahl, andererseits sind vor allem mit der Zulassung von parteiunabhängigen Einzelbewerbern in den Wahlkreisen, aber auch dem Beibehalten der Grundmandatsklausel weiterhin Elemente der Personalwahl enthalten.“

Es sind weiterhin Elemente der Personalwahl enthalten.

Bernd Grzeszick, Verfassungsrechtler

Auch sei zu fragen, „inwieweit noch Mehrheitswahl in den Wahlkreisen stattfindet“, sagt Grzeszick. Wenn man solchen Personalwahlelementen eine eigenständige Bedeutung zumisst, wäre das seiner Ansicht nach eine „Durchbrechung“ des Charakters einer reinen Verhältniswahl. „Und das müsste gerechtfertigt werden.“

Will heißen: Die Ampel müsste in Karlsruhe darlegen, warum sie systemwidrige Elemente in ihrem Wahlgesetz hat. Möglichst hohe Systemreinheit und damit Klarheit und Verständlichkeit hat das Gericht in vergangenen Entscheidungen als wichtigen Maßstab für ein gutes Wahlrecht hervorgehoben.

Das Problem der Unabhängigen

Unabhängige Einzelbewerber lässt die Koalition allerdings weiterhin zu, weil sie sich an eine Karlsruher Entscheidung von 1977 gebunden fühlt, nach der es beim Wahlvorschlagsrecht kein Monopol der Parteien geben darf. Ein weiterer Punkt, der kritisch sein könnte: Wenn Direktbewerber auch auf der Landesliste einer Partei stehen, dann rücken sie bevorzugt in den Bundestag ein, wenn sie ein Direktmandat gewinnen. Auch hier belässt der Ampel-Entwurf einen Vorrang der Personalwahl.

Ob die Widersprüchlichkeiten in Karlsruhe nur zu Korrekturen führen würden oder das Gericht sich veranlasst fühlt, den ganzen Entwurf zurückzuweisen, ist unklar. Entsprechend herrscht Unsicherheit in der Unions-Fraktion. Aber eben auch in der Regierungskoalition.

Es ist auch nicht auszuschließen, dass das Modell wegen der ihm eigenen Haken und Ösen im Praxistest nicht gut ankommt. Als „schwer vermittelbar“ hat es Kassautzki schon bezeichnet. Dann könnte die nächste Wahlrechtsreform schon in einigen Jahren anstehen. 

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