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Die deutschen Kohlekraftwerke werden voraussichtlich wieder stärker gebraucht in naher Zukunft.

© Patrick Pleul/dpa

Vorübergehende Rückkehr zur Kohle: „Klimapolitisch keine leichte Entscheidung“

Wegen des Gas-Engpasses soll vorübergehend die Kohle zum Einsatz kommen. Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, sieht das als notwendig an.

Seit der russische Konzern Gazprom die Lieferungen über die Pipeline Nord Stream 1 gedrosselt hat, herrscht in der Bundesregierung Alarmstimmung. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) plant angesichts der verringerten Lieferungen für eine Übergangszeit den verstärkten Einsatz von Kohlekraftwerken. „Das ist bitter, aber es ist in dieser Lage schier notwendig, um den Gasverbrauch zu senken“, erklärte Habeck am Sonntag.

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Derzeit werden zahlreiche Gaskraftwerke in Deutschland zur Stromerzeugung eingesetzt. Damit mehr Kohlekraftwerke ersatzweise zum Einsatz kommen können, soll ein entsprechendes Gesetz am 8. Juli im Bundesrat behandelt werden und anschließend zügig in Kraft treten. Parallel dazu bereitet das Wirtschafts- und Klimaministerium derzeit die notwendige Ministerverordnung vor, mit der die Gasersatzreserve aktiviert wird.

Damit reagiert die Bundesregierung auf die verringerte Gaszufuhr über die Ostseepipeline Nord Stream 1, die in den vergangenen Tagen um rund 60 Prozent reduziert wurde. Der Konzern Gazprom begründete dies mit Verzögerungen bei der Reparatur von Verdichterturbinen durch die Firma Siemens Energy.

Doch Habeck sieht hinter der Drosselung der Lieferung ein gezieltes Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin. „Es ist offenkundig die Strategie von Putin, uns zu verunsichern, die Preise in die Höhe zu treiben und uns zu spalten“, erklärte Habeck. „Das lassen wir nicht zu. Wir setzen uns entschlossen, präzise und durchdacht zur Wehr.“

Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, sagte dem Tagesspiegel, dass die Lage „unverändert angespannt“ sei. „Die Gasversorgung ist im Moment aber stabil“, fügte er hinzu. „Wir müssen unsere Gasspeicher weiter füllen, sonst wird es schwierig im nächsten Winter. Alles, was wir jetzt einsparen und einspeichern, hilft“, sagte Müller weiter.

Der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller.
Der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller.

© Oliver Berg/dpa

„Wenn nicht genug Gas verfügbar sein sollte, sind private Verbraucher und zum Beispiel Krankenhäuser und Pflegeheime besonders geschützt. Wir müssten dann in der Industrie die Reduzierung des Gasverbrauchs anordnen, mit schwerwiegenden Folgen für unsere Wirtschaft.“

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Der Plan, bei der Stromerzeugung übergangsweise verstärkt auf Kohlekraftwerke zu setzen, sei „klimapolitisch keine leichte Entscheidung“, sagte Müller. „Um den Gasverbrauch bei der Stromerzeugung zu reduzieren, ist das aber notwendig.“ Der Chef der Bundesnetzagentur kündigte an, dass man noch im Sommer einen Mechanismus etablieren wolle, mit dem die Industrie ähnlich wie bei Auktionen Reduzierungen ihres Verbrauchs anbieten könne.

Auktionen sollen beim Gasspeichern helfen

Die geplanten Auktionen sollen helfen, Energie einzusparen. Wie das Wirtschaftsministerium erklärte, soll das geplante Gas-Auktionsmodell dafür sorgen, dass im Winter möglichst viel Gas vorrätig ist. Der Mechanismus soll für industrielle Verbraucher einen Anreiz schaffen, Gas einzusparen, das dann zum Einspeichern genutzt werden kann.

Industriekunden sollen dem Modell zufolge eine Vergütung über den Markt erhalten, wenn sie nicht benötigtes Gas zum Speichern zur Verfügung stellen. Dazu entwickeln die so genannte Marktgebietsverantwortliche Trading Hub Europe (THE), die Bundesnetzagentur und das Wirtschaftsministerium ein Gas-Regelenergieprodukt, mit dem nicht benötigtes Gas  zur Verfügung gestellt werden kann.

SPD-Fraktionsvize Miersch unterstützt Habeck

Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Miersch stellte sich hinter Habecks Pläne.  Dem Tagesspiegel sagte Miersch: „Um die Versorgungssicherheit bei Energie zu gewährleisten, sollten wir uns auf realistische Alternativen zum russischen Gas konzentrieren, die auch kurzfristig wirken. Vorübergehend müssen wir dazu möglicherweise auch verstärkt auf Kohle zurückgreifen, wie es Wirtschaftsminister Habeck vorgeschlagen hat."

Außerdem müssten verschiedene Einsparpotenziale geprüft und genutzt werden. Forderungen nach längeren AKW-Laufzeiten oder Fracking in Deutschland erteilte Miersch eine Absage. "Scheindebatten um Atomkraft oder Fracking sind überflüssig. Die können wir uns sparen." Derweil stellt die FDP bei der Erdgas-Förderung das Fracking-Verbot in Frage.

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Mit dem Hochfahren der Kohlekraftwerke und den geplanten Gasauktionen ist das Arsenal der Gegenmaßnahmen, die Habeck ins Auge fasst, indes noch nicht erschöpft. Bereits  unmittelbar nach dem Beginn der russischen Aggression hatte das Wirtschaftsministerium im März über den Trading Hub Europe Gas beschaffen lassen. Dies Ankaufprogramm ist nach Angaben des Wirtschaftsministeriums mittlerweile abgeschlossen. Insgesamt konnten nach Angaben des Ministeriums rund 950 Millionen Kubikmeter Erdgas erworben werden, die bis Ende Mai in die Speicher eingebracht wurden.

Gegenwärtig liegt der Füllstand der Gasspeicher in Deutschland bei rund 56 Prozent. Damit sind die Gasspeicher zwar besser gefüllt als zum gleichen Zeitpunkt im Sommer 2021. Wenn die russischen Gaslieferungen aber weiterhin derart eingeschränkt sein sollten wie in den vergangenen Tagen, dann wäre das von der Bundesregierung ausgegebene Ziel für den kommenden Winter nur schwer zu erreichen. Bis zum November ist ein Füllstand von 90 Prozent geplant.

Frankreich erhält kein russisches Gas mehr

Dabei ist Deutschland nicht das einzige Land in der EU, das von der Verringerung der Gaslieferungen betroffen ist. Seit dem vergangenen Mittwoch erhält Frankreich gar kein russisches Gas mehr. Gas aus Russland macht 17 Prozent der französischen Gasimporte aus. Damit liegt der Anteil niedriger als in Deutschland. Der französische Netzbetreiber GRTgaz teilte mit, dass trotz des Stopps angesichts der Sommersaison keine unmittelbare Gasknappheit herrsche.

Die Gasspeicher in Frankreich haben derzeit mit 55 Prozent einen ähnlichen Füllstand wie in Deutschland erreicht. Als Alternative zu den Pipeline-Lieferungen aus Russland gilt auch in Frankreich Flüssiggas, das aus Norwegen und den USA importiert wird.

Ein Rückgang bei den russischen Gaslieferungen wurde zudem in Italien und der Slowakei registriert. Nach Angaben des teilstaatlichen slowakischen Gasversorgers SPP erhält das Land seit Freitag aus Russland nur noch 50 Prozent der vertraglich vereinbarten Menge.

Bereits Anfang Juni hatte Gazprom die Exporte nach Dänemark und an Shell Energy Europe gestoppt. Der russische Konzern hatte  den Schritt seinerzeit damit begründet, dass sowohl der dänische Konzern als auch Shell für das Gas nicht wie von Russland gefordert in Rubel zahlten. In der Folge der vom Westen verhängten Sanktionen hatte Putin im März verlangt, dass russische Gaslieferungen in Rubel beglichen werden müssen.

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