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Pro-türkische Islamisten bei einer Militärübung in Syrien nahe Manbidsch.

© AFP/Bakr Alkasem

„Islamistische Terroristen werden in Europa einsickern“: Vor der Invasion von Erdogans Truppen lässt der Westen die syrischen Kurden allein

Die Türkei bombardiert Syriens kurdische Autonomieregion. Der Westen lässt Erdogan gewähren, der nun Bodentruppen schicken will. Verheerend für den Nahen Osten – und für Deutschland.

Syriens Kurden appellieren an den Westen, die türkische Invasion noch zu stoppen. Marschieren Ankaras Truppen wie angekündigt auf breiter Front ein, steht die seit zehn Jahren von Syriens säkularen Kurden verteidigte Autonomieregion vor dem Aus.

„Wir appellieren an die Bundesregierung, zwischen unser Selbstverwaltung und Ankara zu vermitteln“, sagte Abdulkarim Omar, der Europa-Repräsentant der Autonomieregierung, dem Tagesspiegel. „Es geht nicht nur um Millionen Menschen in Nordsyrien, es geht auch um das Leben in Europa.“

Internationale Beobachter rechnen damit, dass es bei einem türkischen Einmarsch zu Massenfluchten kommen wird. Örtlichen Angaben zufolge wurden bislang 25 Männer und Frauen getötet, Kliniken, Schulen und Ölanlagen zerstört.

Kriegseifrige Dschihadisten begrüßen den türkischen Vorstoß. Den Truppen Ankaras schlossen sich syrische Islamisten schon bei früheren Angriffen auf die Autonomieregion an. Die kurdischen YPG-Streitkräfte sind die Hauptkraft in der von den USA unterstützen SDF-Allianz, die den „Islamischen Staat“ als Territorialmacht besiegte. Nun droht ein Wiedererstarken des IS.

600
Kilometer breit und 30 Kilometer tief soll die von Erdogan geplante Besatzungszone in Syrien werden.

Mit einer türkischen Invasion wird nicht nur eine föderale zivile Neuordnung Syriens unwahrscheinlicher. Über Syriens auch Rojava genannte, seit 2012 autonom verwaltete Kurdenregion debattieren bei aller Kritik auch Politiker anderer Staaten.

Abzusehen ist, dass eine Syrien-Invasion auch die international anerkannte Autonomieregion der konservativeren Kurden im Irak unter Druck setzten würde. Ankaras Armee greift auch dort Orte an, zudem bombardiert das iranische Mullah-Regime im Nordirak kurdische Exilverbände. Teherans Herrscher werfen dort residierenden kurdisch-iranischen Exilparteien vor, die anhaltenden Proteste gegen das islamische Herrschaftssystem zu unterstützen: Irans aktueller Aufstand begann in der kurdischen Minderheit.

Wir können uns nicht von einem Nato-Partner so vorführen lassen.

FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann

Marschieren türkische Truppen in Syrien ein, werden von dort Kurden in den Irak fliehen. Arabische Nationalisten könnten das Chaos dafür zu nutzen versuchen, auch Iraks kurdische Autonomie zu schleifen.

Syriens kurdisch geprägte Selbstverwaltung nennt sich „Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien“, in ihr werden Posten mit einer Frau und einem Mann besetzt, alle Ethnien und Konfessionen sind vertreten, Kurdisch, Arabisch und Aramäisch sind die Amtssprachen. Die Region wird von einer Koalition unter Führung der säkularen PYD regiert. Die Partei steht ideengeschichtlich der auch in Deutschland verbotenen, einst in der Türkei gegründeten Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK, nahe.

Im Westen hält man sich mit Kritik an Staatschef Recep Tayyip Erdogan zurück. FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann schrieb: „Wir können uns nicht von einem Nato-Partner so vorführen lassen.“ Doch die Bundesregierung selbst blieb vage, vermutlich auch, weil Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erst am Montag nach Ankara reiste, um mit ihrem Amtskollegen Süleyman Soylu vom rechtsnationalistischen Flügel der regierenden AKP über „Sicherheitsfragen“ zu sprechen.

Ohne Lösung der Kurdenfrage gibt es keine Stabilität im Nahen Osten.

Abdulkarim Omar, nordsyrische Selbstverwaltung

Auch die US-Regierung hält sich zurück, obwohl sie die kurdische YPG gegen den „Islamischen Staat“ mit Waffen unterstützte: Joe Bidens Nahost-Koordinator Brett McGurk mahnte Erdogan lediglich zu „Stabiltät“. Als Schutzmacht der Kurden war immer wieder auch Frankreich im Gespräch. Erdogan hatte sich mit Emmanuel Macron angelegt, als der 2018 Vertreter der YPG in Paris empfangen und Hilfe in Aussicht gestellt hatte.

„Ohne die Lösung der Kurdenfrage gibt es keine Stabilität im Nahen Osten“, sagt Abdulkarim Omar, der bislang als De-facto-Außenminister der nordsyrischen Autonomieregierung fungierte und nun in Brüssel deren Europa-Repräsentanz leitet. „Europa wird nicht nur mit vielen Flüchtlingen konfrontiert werden. In die EU werden auch islamistische Terroristen einsickern.“

Der Europa-Beauftragte der nordsyrischen Autonomieregierung, Abdulkarim Omar.
Der Europa-Beauftragte der nordsyrischen Autonomieregierung, Abdulkarim Omar.

© Foto: Hannes Heine/TSP

In den von Kurden bewachten, stadtgleichen Gefangenencamps leben derzeit 12.000 IS-Kämpfer sowie 70.000 Angehörige. Nur wenige Regierungen haben Dschihadisten, die einst zum IS ausreisten, in deren Heimat zurückholen lassen. Auch die Bundesregierung ließ nur Frauen und Kinder aus dem einstigen Kalifat aus Syrien nach Deutschland fliegen. Dutzende kriegserfahrene IS-Anhänger aus der Bundesrepublik werden von der Selbstverwaltung ernährt und bewacht.

Der türkische Staatschef weiß, dass sein internationales Gewicht größer geworden ist: Erdogan unterhält vergleichsweise gute Beziehungen zu Kreml-Chef Wladimir Putin, mit dessen syrischem Partner Baschar al Assad er ebenfalls bald Gespräche aufnehmen könnte. Erdogan vermittelt auch auf Wunsch der Regierung in Kiew im Ukraine-Krieg und blockiert politisch ungestraft den Nato-Beitritt Schwedens, weil die Skandinavier ähnlich wie Frankreich die syrischen Kurden unterstützten.

Die Hoffnung der von den Kurden geführten Autonomieverwaltung ist nun, dass die Angst vor einem neuen „Islamischen Staat“ im Westen schwerer wiegen könnte als die Vorteile der westlich-türkischen Allianz.

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