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Als Bundesfinanzminister besuchte Olaf Scholz 2021 Washington (Archivbild). Am Montag trifft er als Kanzler den US-Präsidenten.

© dpa

Vor dem Besuch von Olaf Scholz im Weißen Haus: Partner auf dem Prüfstand

Das Treffen mit US-Präsident Biden bietet für Kanzler Scholz die Chance, Führungsstärke und Verlässlichkeit in der Ukraine-Krise zu beweisen. Ein Gastbeitrag.

Sigmar Gabriel war Bundesaußenminister (2017-2018) und ist Vorsitzender der Atlantik-Brücke. Der ehemalige US-Botschafter in Deutschland, John B. Emerson, ist Vorsitzender des American Council on Germany.

Der britische Premierminister Harold Macmillan wurde einmal gefragt, was seine Regierung während seiner Amtszeit am ehesten in die Bredouille hätte bringen können. Seine Antwort: „Ereignisse, mein Junge, Ereignisse“. Daran erinnern wir uns, während wir die aufkommenden Spannungen beobachten, die die russische Truppenaufstockung an der Grenze zur Ukraine und die internationalen Reaktionen darauf auslösen.

Regierungen werden immer wieder mit unvorhergesehenen Ereignissen konfrontiert, die einerseits als Katalysatoren für die Gestaltung von Politik und Positionen dienen können. Andererseits können diese Ereignisse aber auch als Prüfstein für die Führungsqualitäten gesehen werden.

Kaum 50 Tage im Amt, wurde die neue deutsche Regierung mit ihrem ersten Belastungstest konfrontiert – und ihre Reaktion hat Zweifel aufkommen lassen, ob Deutschland ein verlässlicher Partner bei der Bewältigung internationaler Herausforderungen ist.

Deutschland hat die Chance, sich zu profilieren

Jetzt reist Olaf Scholz erstmals als Bundeskanzler nach Washington D. C. Die Spannungen mit Russland wegen des Ukraine-Konflikts dürften bei seinem Treffen mit Präsident Joe Biden dabei ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Mit einem Transatlantiker im Weißen Haus, der sich dem Multilateralismus verschrieben hat, hat Deutschland die Chance, sich zu profilieren.

Nach wochenlangem Hin und Her kann dies die Chance für Deutschland sein, Führungsstärke und Engagement für die gemeinsame Sache unter Beweis zu stellen. Deutschland darf angesichts der von Russland verursachten Krise vor den Toren Europas nicht selbstgefällig dastehen.

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Mit mehr als 100.000 russischen Soldaten an der Grenze zur Ukraine scheint ein Krieg in der Mitte Europas wieder möglich. Das darf nicht sein. Die Vereinigten Staaten haben gemeinsam mit Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich Russland zu verstehen gegeben, dass ein Eindringen mit einem sehr hohen Preis verbunden wäre, aber auch, dass sie weiterhin auf Diplomatie setzen. Russland kann nicht daran zweifeln, dass der Westen für den Dialog offen ist.

In der Tat ist dies eine der beiden Säulen der NATO: Abschreckung und die Verteidigung der Freiheit und Sicherheit der Mitgliedstaaten sowie einen Kanal für Zusammenarbeit und Dialog. Die Ukraine ist zwar kein NATO-Mitglied, doch die westlichen Verbündeten glauben fest an die Souveränität aller europäischen Staaten.

Dabei ist wichtig, sich zu erinnern, dass die Ukraine-Krise nicht neu ist. Seit dem Frühjahr 2014 herrscht durch die Annexion der Krim und russische Übergriffe in der Donbas-Region Krieg, jedoch schwelen die Spannungen zwischen Russland und dem Westen in Bezug auf die Ukraine schon viel länger.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Gelegenheit genutzt, um einen Keil zwischen die Partner im Westen zu treiben. Doch stattdessen können seine Aktionen auch als Katalysator dienen, um die öffentliche Meinung in Deutschland zu verändern (um die von Russland ausgehende Bedrohung zu erkennen) und die Politik der neuen deutschen Regierung gegenüber Russland zu beeinflussen.

Was kann Deutschland realistischerweise tun?

Deutschland hat bezüglich der Sicherheit und Entwicklung viel für die Ukraine getan. Seit 2014 wurden 1,8 Milliarden US-Dollar an Wirtschaftshilfen bereitgestellt und Programme zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit und zur Korruptionsbekämpfung in der Ukraine unterstützt. Deutschland leitet gemeinsam mit Frankreich die diplomatischen Bemühungen zur Lösung der russisch-ukrainischen Probleme im sogenannten Normandie-Format. Als Mitglied der Europäischen Union und als deren größter Beitragszahler hat Deutschland die ukrainische Regierung seit 2014 mit 17 Milliarden Euro finanziell unterstützt.

Noch nur Übung: Ein Soldat der Spezialeinheiten der ukrainischen Nationalgarde bei der verlassenen Stadt Prypjat.
Noch nur Übung: Ein Soldat der Spezialeinheiten der ukrainischen Nationalgarde bei der verlassenen Stadt Prypjat.

© Mykola Tymchenko/AP/dpa

Aufgrund seiner Geschichte ist Deutschland in seiner Fähigkeit, Waffen zu liefern, jedoch eingeschränkt. Berlin könnte – als Zeichen der Unterstützung für die Ukraine – sofort in Erwägung ziehen, mehr als nur Helme zur Verfügung zu stellen, in Form von Kevlar-Schutzwesten, Ausrüstung für den Funkverkehr und Support im Transport- und Logistikbereich. Allerdings muss es im Bundestag eine offene und ehrliche Debatte über die künftige deutsche Außen- und Sicherheitspolitik geben und über die konkreten Beiträge, die Deutschland in Zukunft zu leisten bereit ist.

Eine starke transatlantische Partnerschaft beruht nicht auf Schuldzuweisungen, sondern auf Vertrauen und der unbedingten Bereitschaft, die Zusammenarbeit zu verstärken, insbesondere wenn die Partnerschaft auf dem Prüfstand steht. 

 Biden braucht Deutschland als Verbündeten für die Weltpolitik

Mit Joe Biden haben die Vereinigten Staaten einen Präsidenten, der im Gegensatz zu seinem Vorgänger wieder bereit ist, die Demokratien der Welt zu vereinen und zu führen. Angesichts der Herausforderungen und der Unbeständigkeit im 21. Jahrhunderts braucht die USA jedoch Verbündete – und Deutschland und Europa brauchen die Vereinigten Staaten. Nur gemeinsam können sie die Welt im Gleichgewicht halten und die Demokratien der Welt verteidigen und stärken.

Kurzum: Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz brauchen sich gegenseitig. Das sollte der deutschen Politik Mut machen. Mut, die eigene Sicht der Dinge zu vertreten und eine Rolle für Deutschland und Europa in den Verhandlungen mit Russland zu übernehmen. Mut aber auch, auf die Erwartungen der Biden-Regierung zu reagieren, dass Deutschland bereit ist, mehr Verantwortung für die Verteidigung Europas zu übernehmen.

Berlin könnte amerikanische F-35-Flugzeuge kaufen

Die neue deutsche Regierung kann eine Bereitschaft zur nuklearen Teilhabe senden und ankündigen, dass sie amerikanische F-35-Flugzeuge kaufen wird, um eine drohende Kompetenzlücke zu vermeiden, bis Europas eigenes Future Combat Air System einsatzbereit ist. Sie kann zusagen, die deutschen Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen und einen Teil dieser zusätzlichen Mittel zur Stärkung der militärischen Einsatzfähigkeit der NATO-Mitglieder in Osteuropa bereitstellen.

Während seines Aufenthalts in Washington sollte Scholz auch deutlich machen, dass Berlin bereit ist, Nord Stream 2 als Druckmittel zu nutzen. Russland (und davor die Sowjetunion) war jahrzehntelang eine zuverlässige Gasquelle für Deutschland, was jedoch nicht mehr gewährleistet ist.

Diese Krise hebt hervor, dass Deutschland seine Energieversorgung weiter diversifizieren muss – unabhängig davon, ob Nord Stream 2 in Betrieb geht oder nicht. Das Zögern, Nord Stream 2 als mögliches Druckmittel zu nutzen, spielt Putin allerdings in die Hände. Darüber hinaus sollte bedacht werden, dass Putin bereits akzeptiert haben könnte, dass die Pipeline möglicherweise nie in Betrieb genommen wird.

Mit einem solchen Schritt würde Bundeskanzler Olaf Scholz auf die Vereinigten Staaten zugehen, die lange in Richtung Deutschland ausgestreckte Hand von Joe Biden annehmen und den derzeitig gegenseitigen Schuldzuweisungen ein Ende setzen – um den Grundstein für ein konstruktives neues Kapitel der transatlantischen Zusammenarbeit zu legen.

Olaf Scholz würde Joe Biden auch einen wichtigen innen- und außenpolitischen Erfolg liefern, da er dann sagen könnte, dass ihm gelungen ist, was kein US-Präsident seit dem Ende des Kalten Krieges geschafft hat: dass Europa – und insbesondere Deutschland – mehr Verantwortung für sich und seine Verteidigung übernimmt.

Das wäre mutig und auch ratsam: Angesichts der gemeinsamen Herausforderungen, vor denen Europa und die Vereinigten Staaten stehen, müssen wir zusammenkommen, Lösungen finden und geschlossen auftreten. Hoffentlich können Joe Biden und Olaf Scholz bei ihrem Treffen einen Konsens und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft finden.

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