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Präsident Kais Saied lässt sich am Montagabend in Tunis feiern.

© via REUTERS

Neue Machtfülle für Tunesiens Präsident: Von der Revolution zurück zum starken Mann

Die per Referendum angenommene Verfassung ist ein bitterer politischer Rückschritt - aber die Menschen hoffen auf bessere Lebensbedingungen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Nüsse

Wie soll man das verstehen? Da machen die Tunesier 2010/2011 eine Revolution, jagen den Autokraten Ben Ali aus dem Land, schaffen es als einziges Land der arabischen Welt, einen Übergang zur Demokratie und Koalitionsregierungen hinzukriegen.

Und jetzt stimmen über 90 Prozent freiwillig für eine Verfassung, die die Gewaltenteilung aufhebt und dem Präsidenten extreme Macht gibt. Sie wählen also ein politisches System, das jederzeit zu einer Diktatur ausgebaut werden könnte.

Die Beteiligung am Referendum vom Montag war mit etwa 27 Prozent, wie die Wahlbehörde vorläufig mitteilte, zwar niedrig, aber höher als gedacht, da viele Parteien die Abstimmung boykottiert hatten.

Aber ein Teil der Bevölkerung bejubelt und unterstützt Präsident Kais Saied, den Professor für Verfassungsrecht, der als politischer Außenseiter ins Amt kam und nun im Alleingang das politische System Tunesien umkrempeln will.

Bei der Revolution ging um selbstbestimmtes Leben dank angemessenen Einkommens

Bei der Jasmin-Revolution ging es um „Würde“ – vor allem in dem Sinn, dass man durch angemessene Einkommensmöglichkeiten ein selbstbestimmtes Leben und eine Perspektive hat. Die Gier und die gnadenlose Ausbeutung des Landes durch die Familie von Präsident Ben Ali war damals für sozial schlechter gestellte Gesellschaftsschichten die Motivation für den Aufstand 2010/11.

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Dann wurde zwar gerade im Westen gefeiert, das dank zivilgesellschaftlicher Institutionen der Übergang zu einem demokratischen System geschafft wurde; aber die wirtschaftliche Dividende in Tunesien selbst blieb aus. Viele der neuen und alten Parteien haben ihre politischen Mandate missbraucht, um in klassischer Manier nur näher an die Futtertöpfe des Staates zu kommen und sich zu bedienen. Ein demokratischer Geist, Verantwortungsgefühl fürs Ganze fehlten.

Europa hat zwar kurzzeitig kritisch auf seine bisherige Politik mit Autokraten in der Region geschaut – dann aber schnell wieder seine eigenen Sicherheitsbedürfnisse und Interessen zur Richtschnur des Handelns gemacht. Und alte Instrumente der Nachbarschaftspolitik fortgesetzt, die offenbar weder zu Reformen noch Stabilisierung beitrugen.

Der politische Außenseiter hat das politische Personal bestraft

Der Unmut über das Ausbleiben wirtschaftlicher Perspektiven, für die die politischen Eliten verantwortlich gemacht wurden, erklärt die Begeisterung für Saied, der dieses korrupte Personalkarussell auflöste. Diese Begeisterung, die anfänglich auch demokratische gesinnte Gruppen umfasste, nutzt er jetzt, um die von ihm konzipierte, lokal verankerte politische System durchzusetzen, in dem politische Parteien keine Rolle spielen sollen.

Dieser Backlash ist bitter. Trotzdem war nicht alles umsonst: Es gibt eine stärkere Zivilgesellschaft, es gibt politische Gruppen, die für Demokratie eintreten. Ganz geht der Geist nicht mehr in die Flasche zurück.

Entscheidend wird, ob der Präsident mit all seiner politischen Macht einen wirtschaftlichen Aufschwung hinbekommt in diesen globalen Krisenzeiten. Zwar kann er auf die Unterstützung Saudi-Arabiens und der Emirate zählen, aber die gesamte Wirtschaft können die Golfstaaten nicht am Laufen halten. Daher wird es ohne neue Programme und Kredite des Internationalen Währungsfonds (IMF) nicht gehen: Aber der Populist Saied wird wohl kaum das geforderten Sparprogramm im öffentlichen Sektor durchsetzen.

Wird der IMF also jetzt die Augen zudrücken und neue Kredite geben ohne Bedingungen? Das ist denkbar, denn niemand will Tunesien im Chaos versinken sehen. Aber Modellcharakter hat der tunesische Weg schon längst nicht mehr.

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