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Aufmarsch in Minsk. Demonstranten halten historische belarussische Flaggen und nehmen an einem Protest der Opposition teil (13.9.2020).

© dpa

Vier Szenarien für die nahe Zukunft: Was hat der Kreml mit Belarus vor?

Sind die Tage des Diktators Lukaschenko gezählt? Das hängt von Putin ab. Wie auch das Schicksal der Protestbewegung. Ein Gastbeitrag.

Jörg Forbrig ist Direktor für Mittel- und Osteuropa beim German Marshall Fund of the United States.

Vor dem Hintergrund der Massenproteste in Belarus findet an diesem Montag im russischen Sotschi ein denkwürdiges Treffen statt. Alexander Lukaschenko, der um seine Macht ringende belarusische Diktator, reist zu Wladimir Putin, seinem maßgeblichen Unterstützer.

Ihr erstes Aufeinandertreffen seit Beginn des Volksaufstandes gegen Lukaschenkos gefälschte Wiederwahl ist ein Gradmesser für die weitere Entwicklung der Krise in Belarus. Dabei steht das Schicksal Lukaschenkos ebenso auf dem Spiel wie das der belarusischen Demokratiebewegung sowie die Unabhängigkeit von Belarus. In all diesen Punkten kommt Russland zweifellos eine Schlüsselrolle zu. Auf diese kann und muss die EU jedoch entschiedener als bisher Einfluss nehmen.

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Der belarusische Sommer kam für Russland ebenso überraschend wie für Europa und sogar viele in Belarus selbst. Der Kreml hatte erwartet, dass Lukaschenko sich im Amt behaupten würde, jedoch geschwächt wäre durch die Unzufriedenheit in der belarusischen Gesellschaft.

Russische Widersprüchlichkeiten

Moskaus Kalkül war, dass dies Minsk zu Zugeständnissen bei der engeren politischen Integration beider Länder zwingen würde, die von Putin lange gefordert, aber von Lukaschenko aus Gründen des eigenen Machterhalts bislang abgelehnt wurden. Dass freilich der Fortbestand des Lukaschenko-Regime in Frage stehen würde, kam für die russische Führung unerwartet. Entsprechend widersprüchlich waren die ersten russischen Reaktionen auf die Geschehnisse in Belarus.

Erst eine Woche nach der Wahl kristallisierte sich eine russische Linie heraus. Moskau entsandte Dutzende eigener Propagandisten zu den durch Streiks geschwächten belarusischen Staatsmedien. Putin kündigte die Bildung einer Polizeireserve an, die Lukaschenko im Notfall unterstützen soll. Russlandhörige Führungskräfte wurden, wohl auf Intervention Moskaus, im Sicherheitsapparat installiert. Eine Umschuldung belarusischer Kredite gegenüber Russland wurde in Aussicht gestellt.

Dazu kommt Moskaus eindeutige politische Rückendeckung, so durch klare Ablehnung des Koordinationsrates, der Plattform der vielen Lukaschenka-Gegner, oder haltlose Anschuldigungen westlicher Einmischung in Belarus. Die derzeitige Kreml-Hilfe für Lukaschenko bedeutet jedoch nicht, dass auch der weitere Kurs Russlands in Belarus abgesteckt ist. Für diesen sind vier Szenarien denkbar.

Verstärkte Abhängigkeit

Erstens könnte Moskau unmittelbare Zugeständnisse aus Minsk erzwingen. Schon lange fordert der Kreml, neben der Vollintegration beider Staaten, den Verkauf belarusischer Staatsbetriebe an russisches Kapital, die Einrichtung russischer Militärbasen oder die Anerkennung von Moskaus Eroberungen wie der georgischen Regionen Südossetien und Abchasien oder der ukrainischen Halbinsel Krim. Diese offenen Rechnungen mag Putin nun durch Lukaschenko beglichen sehen wollen. Dies würde die ohnehin vielschichtige und enge belarusische Abhängigkeit von Russland weiter verstärken.

Zweitens ist es möglich, dass der Kreml die langfristige Integration von Belarus und Russland auch formal voranbringt. Der gemeinsame Unionsstaat bestand lange nur auf dem Papier, ist aber seit zwei Jahren Gegenstand heftiger Konflikte zwischen Minsk und Moskau. Letzteres könnte nun, da Lukaschenkos Zukunft in Putins Hand ist, das finale Einverständnis zu noch strittigen Fragen von gemeinsamen Institutionen und Währung einfordern. Das bedeutete im Grunde den Anschluss des kleineren an den größeren Nachbarn.

Drittens könnte Russland auf einen Umbau des politisch-institutionellen Systems in Belarus abzielen. Lukaschenka hat zuletzt selbst eine Verfassungsreform und Neuwahlen von Parlament und Präsident ins Spiel gebracht, freilich unter seiner Kontrolle. Dies ist durchaus im Sinne Moskaus. Dessen Einflussnahme auf Belarus war bislang begrenzt, weil politische Kontrolle, Sicherheitsapparat, Staatsmedien, wirtschaftliche Einnahmequellen und gesellschaftliche Umverteilung komplett in der Hand Lukaschenkas lagen.

Jedes dieser Szenarien stellt darauf ab, Russlands Kontrolle über seinen kleineren Nachbarn auf lange Sicht zu zementieren. Kurzfristig ist dafür Lukaschenko noch erforderlich, schon mittelfristig ist er freilich entbehrlich. Jedoch wird in keinem dieser Fälle der grundsätzliche Konflikt zwischen Gesellschaft und Staat in Belarus wirklich gelöst. Instabilität ist damit vorprogrammiert. Dazu riskiert Russland, durch seine Hilfe für den verhassten Diktator viele Belarusen gegen sich aufzubringen.

Moskau könnte risikolos neue Wahlen zulassen

Dabei gibt es ein viertes Szenario, das einen solchen Stimmungswandel vermeidet, der berechtigten Forderung der belarusischen Gesellschaft nach Veränderungen Rechnung trägt und Moskaus Einfluss auf Minsk erhält. Nüchtern betrachtet kann Moskau einem Machtwechsel in Minsk gelassen entgegensehen. Belarus ist seit langem wirtschaftlich, politisch, institutionell, finanziell, medial und gesellschaftlich äußerst abhängig von Russland. Dies setzt jeder neuen Regierung ausgesprochen enge Handlungsspielräume.

Der Kreml könnte es sich durchaus leisten, ohne Einbuße seiner hegemonialen Position dem kleineren Nachbarn freie und faire Wahlen zuzugestehen. Er müsste Lukaschenko die Unterstützung aufkündigen, den Willen der Bevölkerungsmehrheit und dessen Repräsentanz, den Koordinationsrat, anerkennen und auf einen verhandelten Machtwechsel mit baldigen Neuwahlen hinwirken.

Dies bedeutet aber auch, dass die EU durchaus noch Einfluss auf die Dynamik der Ereignisse in Belarus nehmen kann. Gegenüber Lukaschenko muss die EU klarmachen, dass er nicht mehr der legitime Präsident von Belarus ist. Sollte er sich noch einmal inaugurieren lassen, gehört er sofort auf die Sanktionsliste der EU. Zugleich ist jegliche Zusammenarbeit mit seiner illegitimen Regierung einzufrieren. Umgekehrt sollte der Koordinationsrat als berechtigte Vertretung der Bevölkerung von Belarus anerkannt und in alle internationalen Kontakte und Überlegungen zu Belarus eingebunden werden.

Gleichzeitig muss Russland deutlich gemacht werden, dass alle Abkommen, die es noch mit Lukaschenko verhandelt, nicht international anerkannt werden. Dazu sollte die EU den Kreml drängen, seine Einmischung zugunsten des bisherigen Machthabers einzustellen und anzuerkennen, dass seine Interessen in Belarus von einem Machtwechsel unberührt bleiben. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen und ein Zeitfenster für Wandel in Belarus zu eröffnen, wäre ein zweijähriges Moratorium des Pipelineprojektes Nord Stream 2 geeignet.

Das heutige Treffen Lukaschenkos mit seinem Sponsor Putin ist vermutlich vorentscheidend für den Ausgang der Belarus-Krise. Die Belarusen selbst haben gestern bei landesweiten Protesten nochmals deutlich gemacht, dass für sie nur der Abgang ihres Diktators akzeptabel ist. Dieser Forderung sollte die EU in ihrer eigenen Reaktion auf das Sotschi-Treffen deutlich Nachdruck verleihen.

Jörg Forbrig

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