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Annalena Baerbock, klebte 2017 noch selbst ihr Wahlplakat. das wird sie als Spitzenkandidatin nicht mehr müssen.

© imago images/Martin Müller

Viel mehr als öko: Jetzt haben die Grünen eine historische Chance

Annalena Baerbock tritt für die Grünen als Kanzlerkandidatin an. Das wird nicht die einzige Stärke der Partei im Wahlkampf. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Jede Zeit hat eine Farbe, sagt Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner – und dass die der Zukunft Grün ist, ist nicht mehr ausgeschlossen.

Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin: Abgezeichnet hatte es sich, nun ist es quasi abgesegnet. Nie war Robert Habeck, Ihr Co in der Parteiführung, in letzter Zeit so gut wie bei der Einführung von Baerbock als Nummer 1.

Die beiden haben sich geeinigt, ohne Geräusche, ohne öffentlichen Machtkampf und Streit. Vorbei die unruhige Vergangenheit. Fundamental ist hier nur der Wandel. Was auf den ersten Blick an die Union erinnert und wie die weiland scheinbar genauso ihre Kanzlerkandidaten gekürt hat, ist bei den Grünen auf den zweiten Blick doch grundlegend anders.

Mag schon sein, dass sich Baerbock und Habeck im Hinterzimmer getroffen haben oder in der Wohnküche, zum Frühstück wie einstmals Angela Merkel und Edmund Stoiber. Im Unterschied zu den beiden allerdings obsiegt hier erstens ohne Mühe die Frau, zweitens wird ihre Legitimation von niemandem im Parteiumfeld in Zweifel gezogen.

Der Wahlkampf kommt, und die Grünen sind gerüstet

Beide, Baerbock und Habeck, sind mit stärksten Ergebnissen gewählt und zugleich mit dem Auftrag der Führung ausgestattet, einer Führung in größtmöglicher Gemeinsamkeit. Was hier möglich ist, zeigen sie exemplarisch: Der Schulterschluss ist gelungen wie nirgends sonst. Was wiederum besonders ins Auge sticht, wenn man in Richtung Union blickt.

Der Wahlkampf kommt, und die Grünen sind gerüstet. Die Partei, geschlossen wie nie, wird ein machtvolles Instrument, das sie so auch noch nie war. Was sie in ihrem Wahlprogramm fordert, ist in der Tat bedacht. Ökologie und Ökonomie und, nicht zuletzt, die soziale Frage näher zusammenzubringen – das soll ihnen gelingen. Das Soziale, das bei den Grünen länger in den Hintergrund geraten zu sein schien. Auch das passt in die Zeit.

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Denn im und am Sozialen wird sich viel entscheiden, für die Menschen in der Corona-Krise sowieso, die von den Folgen gebeutelt werden, wie auch parteipolitisch. Den Grünen kann es gelingen, die Rolle der unverändert schwächelnden SPD einzunehmen, so weit ist es inzwischen.

Die Sozialdemokraten, gleichsam traditionell Betriebsrat der Nation, können vieles an Veränderung für sich in Anspruch nehmen – nur wird ihnen gerade wenig bis nichts davon gutgeschrieben. Ihre Werte verändern sich kaum, 14 Prozent, 15 Prozent, damit lässt sich wenig Staat machen.

Die Wähler:innen wissen, wer das Original ist

Die Grünen mit stabil über 20, gegenwärtig mehr als 25 Prozent und steigend, haben die historische Chance, stärkste Fraktion des nächsten Bundestags zu werden. Wenn die Partei Glaubwürdigkeit mit Kreativität für sich in Anspruch nehmen kann. Was sie kann; das sehen nicht nur ihre Sympathisanten so. Auch der politische Gegner erkennt es an.

[Mehr zum Thema: Unterschätzte Grünen-Chefin – ob Baerbock Kanzlerin kann? Die Frage ist längst beantwortet]

Nirgends lässt es sich besser ablesen als daran, dass ein Markus Söder, der wirklich konservative CSU-Chef, jetzt Bäume umarmt und Bienen schützen will, darüber hinaus den Klimaschutz zu DEM Thema der kommenden Jahre erklärt.

Annalena Baerbock spricht über ihre Kanzlerinnenkandidatur.
Annalena Baerbock spricht über ihre Kanzlerinnenkandidatur.

© imago images/sepp spiegl

Und wo sich Söder derart dem Geist der Zeit anzuschmiegen versucht, werden die Wähler:innen doch wissen, wer auf diesem politischen Feld das Original ist. Das wird zuerst gewählt. Nicht die Union.

Wer beklagt, dass die Grünen immer noch viel Staatsdirigistisches im Programm haben, verkennt die Ausgangslage. Gerade in der Pandemie erlebt die Vorstellung vom starken helfenden Staat eine Renaissance, und alle größeren Wettbewerber der Grünen sehen die Notwendigkeit, massiv zu investieren.

Das verbindet sich, im Übrigen, mit dem, was Robert Habeck sagt. Ein Hinweis auf Kommendes: Finanzminister ist auch ein machtvolles Amt. Zumal Zukunft keine Verwaltung des Bestehenden ist – das hat sich überlebt – und Politik in diesem Jahr keine kleine Münze.

Die anderen Parteien, älter, grauer, weniger divers, werden sich umschauen. Wenn die Grünen in ihrem Hochgefühl jetzt keinen Höhenriss bekommen, kann es sein, dass nach den Wahlen im September ihre Farbe stärker denn je strahlt. So wie ihre Kanzlerkandidatin am Tag der Ausrufung.

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