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Andreas Voßkuhle war seit 2010 Präsident des Bundesfassungsgerichts.

© SWR/obs

Verfassungsrichter zur Coronavirus-Krise: Voßkuhle hält deutsche Strategie für alternativlos

Der scheidende Verfassungsrichter Voßkuhle stützt in der Pandemie den Kurs der Politik. Und verspricht: Die Freiheiten kommen zurück – „ohne Abstriche“.

Der scheidende Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hat sich in der Coronavirus-Krise hinter die Entscheidungen der Politik zur Eindämmung der Pandemie gestellt. In Karlsruhe gingen zwar viele Anträge wegen der erlassenen Maßnahmen ein, sagte der 56-Jährige in einem Interview mit der „Zeit“. „Aber uns droht nicht der Unrechtsstaat. Die Grundrechte sind nicht dauerhaft in Gefahr. Im Gegenteil, die Gerichte arbeiten trotz Homeoffice ganz normal, manche Einschränkungen werden von ihnen aufgehoben, andere nicht. So funktioniert das in einem demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat.“

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Voßkuhle äußerte sich in diesem Punkt deutlich klarer auf Linie der Regierenden als sein Vorgänger an der Spitze des Karlsruher Gerichts, Hans-Jürgen Papier. Dieser hatte gerade in einem Gespräch mit dem „Spiegel“ gesagt, Gesundheitsschutz rechtfertige nicht jedweden Freiheitseingriff. „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Sinn und Zweck eines Verfassungsstaates in erster Linie der Schutz der Freiheit ist.“ In der Krise seien nicht die Maßnahmen der Lockerung rechtfertigungsbedürftig, sondern die Aufrechterhaltung von Beschränkungen der Grundrechte, sagte Papier.

Auch Voßkuhle machte allerdings deutlich, Juristen müssten sich jeweils den einzelnen Fall anschauen und könnten nicht allgemein prüfen, ob die Eingriffe verfassungsgemäß seien oder nicht, sagte Voßkuhle der seit 2010 dem höchsten deutschen Gericht vorsteht.

In der Pandemie machen die Verantwortlichen auch Fehler, so Voßkuhle

Und gestand ein: „Beim Kampf gegen die Pandemie unterlaufen den Verantwortlichen sicher Fehler, es gibt auch Fehleinschätzungen.“ Es sehe aber nicht, was die Alternative sein könnte. „Man kann auf eine völlig andere Strategie setzen, das haben die Briten am Anfang versucht, mit offenbar verheerenden Resultaten, ebenso die Vereinigten Staaten.“

Und auch am Kurs in Schweden, wo die Regierung mit Blick auf die Einschränkungen des Alltags für die Bürger einen vergleichsweise moderaten Kurs eingeschlagen hat, äußerte Voßkuhle Zweifel. „Ob das Erfolg hat, ist unklar. Die Zahl der Opfer der Pandemie ist dort relativ hoch.“

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Gleichzeitig warnte der Verfassungsrichter, auch in Deutschland wisse man nicht, ob die Strategie aufgehe. „Wir wissen zum Beispiel nicht, welche Folgen all die Lockerungen haben werden, die jetzt angekündigt worden sind.“ Die Bürger könnten aber andererseits darauf vertrauen, dass die Grundrechte wiederhergestellt würden, sagte Voßkuhle. „Die Menschen werden ihre Freiheiten zurückbekommen, ohne Abstriche. Da bin ich sicher.“

Gleichzeit warnte Voßkuhle, dass niemand wissen könne, was in der Coronavirus-Krise noch geschehe. Die Pandemie werde womöglich länger dauern, als manche denken. „Es kann auch noch schreckliche Entwicklungen geben, einen heftigen Rückfall, oder das Virus mutiert und wird noch gefährlicher.“

Die Deutschen seien Verfassungspatrioten geworden, sagt Voßkuhle

Dass besonders in Deutschland, wo der Alltag im Vergleich zu anderen Ländern deutlich weniger eingeschränkt ist, erbittert über die Grundrechte gestritten werde, begründete Voßkuhle so: „Das liegt, glaube ich, daran, dass die Deutschen wirklich zu Verfassungspatrioten geworden sind. Ihnen liegt die Verfassung am Herzen, und ihre Freiheiten sind ihnen sehr wichtig.“

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In diesem Zusammenhang angesprochen auf den im vergangenen Jahrzehnt auch in Deutschland entstandenen Populismus benannte Voßkuhle einen aus seiner Sicht klaren Fehler: „Ein wichtiger Aspekt ist, glaube ich, dass die liberale Elite die – wenn Sie so wollen – ‚normalen‘ Menschen etwas aus dem Blick verloren hat.“

Viele Menschen hätten das Gefühl, mit ihren Problemen alleingelassen zu werden. Die liberalen Eliten interessierten sich häufig eher für Menschen die „offensichtlich diskriminiert werden“. Aber man dürfe nicht die große Mitte aus dem Blick verlieren, all jene, „die die eher unter dem Radar ein normales Leben leben“.

Voßkuhle berichtet von Morddrohungen gegen Verfassungsrichter

Gleichzeitig sagte der im lippischen Detmold geborene Voßkuhle, dass sich die Atmosphäre im Land seit seiner Wahl zum Verfassungsrichter im Jahr 2008 aus seiner Sicht vergiftet habe. Auch seine Kolleginnen und Kollegen müssten mit Hass, Verachtung und sogar Morddrohungen leben. „Wir bekommen bedrückende Mails und Briefe, immer wieder werden einzelne Kolleginnen und Kollegen für Entscheidungen ihres Senats verantwortlich gemacht. Sie müssen nicht nur Häme und Kritik im Netz ertragen, sie werden auch ernsthaft persönlich bedroht.“

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Zu dem Problem, dass der Eindruck bestehe, deutsche Gerichte gingen gegen Hass und Häme im Netz nicht entschieden genug vor, sagte Voßkuhle, dies habe mit dem hohen Wert der Meinungsfreiheit zu tun. „Auch aus historischen Gründen tun sich deutsche Juristen schwer, anderen das Sagen und Sprechen zu verbieten. Ich habe aber den Eindruck, dass vielen bewusst geworden ist, dass hier ein gewisses Problem liegt, vor dem auch die Juristen nicht die Augen verschließen dürfen.“

„Wir brauchen mehr Kommunikation in der Justiz“

Kritisch äußerte sich Voßkuhle allerdings auch zur Selbstdarstellung der Gerichte in Deutschland. Juristen seien eher konservativ und häufig medienscheu. Er sei fest davon überzeugt: „Wir brauchen mehr Kommunikation in der Justiz. Wir wollen heute von unserem Arzt erklärt bekommen, welche Krankheit wir haben und welche Gründe für welche Therapie sprechen, und wir wollen auch vom Richter wissen, warum er eine Entscheidung so und nicht anders getroffen hat.“

Zu seiner persönlichen Bilanz nach zwölf Jahren am Bundesverfassungsgerichts sagte Voßkuhle: „Vielleicht bin ich ein wenig, ich will nicht sagen misstrauischer, aber doch vorsichtiger geworden. Der fast grenzenlose Optimismus, wieweit man Dinge zum Guten verändern kann, ist einer etwas realistischeren Einschätzung gewichen.“

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