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Menschen aus Tel Aviv suchen während eines Angriffs Schutz unter einer Brücke

© Gil Cohen-Magen/AFP

Vereint in Furcht und Ungewissheit: Wie die Menschen in Tel Aviv die Angriffe erleben

Mittwoch in einem Vorort Tel Avivs. Draußen heulen Sirenen schmerzhaft schrill im Ohr. Der Alarm hat Fremde hier zusammengetrieben.

Wildfremde Menschen hocken in einem kahlen Treppenhaus: ein älterer Herr, zwei Mädchen, ein junger Mann mit amerikanischem Akzent, eine Frau mit Yogamatte.

Es ist Dienstagabend in einem Vorort Tel Avivs, draußen heulen Sirenen, schmerzhaft schrill im Ohr. Der Alarm, der vor Raketen aus Gaza warnt, hat die Fremden hier zusammengetrieben. Ist kein Bunker in der Nähe, das wissen in Israel alle, versteckt man sich am besten im Treppenhaus. Immer wieder rumst es in der Ferne, dumpfe, bedrohliche Laute, die wie Einschläge klingen. Dabei ist es, so hoffen die Schutzsuchenden wenigstens, das Abfangsystem Iron Dome, das die Raketen stoppt, bevor sie auf die Stadt fallen.

Nach einigen Minuten verstummen die Sirenen. Die Fremden wechseln Blicke, vorsichtig erleichtert: Ist es sicher? Die ersten wagen sich heraus, andere bleiben. Da geht es wieder los: erst Sirenen, dann Einschläge. Eines der Mädchen vergräbt das Gesicht in den Händen. Die Mutigen kommen zurück ins Treppenhaus gelaufen. Die unfreiwillige Gruppe ist wieder vereint in Furcht und Ungewissheit.

Seit dem Gazakrieg 2014 haben Tel Aviv und seine Vororte nicht solche Szenen erlebt. Für die Städte im Süden des Landes, Sderot, Ashdod oder Ashkelon, ist Beschuss aus Gaza traurige Gewohnheit, selten schafft er es überhaupt in die Presse. Dass die Hamas, die den Gazastreifen regiert, jedoch Tel Aviv unter Beschuss nimmt, die hippe Mittelmeerstadt, das Herz der High-Tech-Nation, ist außergewöhnlich – erst recht in dem Ausmaß der letzten Nacht.

„Zum ersten Mal habe ich mich gefühlt wie im Yom-Kippur-Krieg“, berichtet der 59-jährige Israeli Aharon Micha aus Holon, einer südlichen Vorstadt Tel Avivs. Jener verlustreiche Krieg im Jahr 1973 gegen eine Allianz arabischer Staaten gilt in Israel bis heute als nationales Trauma. „Seitdem habe ich keinen Bunker mehr betreten, aber dieses Mal habe ich beschlossen, es gibt keine Wahl.“ Am Montagabend raste in Holon eine Rakete in einen leeren Bus. Videos von dem Einschlag, der Umstehende verletzte, verbreiteten sich rasch auf den sozialen Medien.

Raketen der Hamas werden auf ein Hochhaus in Tel Aviv abgefeuert
Raketen der Hamas werden auf ein Hochhaus in Tel Aviv abgefeuert

© Anas Baba/AFP

Über Tausend Raketen feuerten militante Palästinenser im Gazastreifen seit Montagabend gen Israel. Rund 200 davon landeten nach Angaben der israelischen Armee, der IDF, innerhalb Gazas. Die meisten Geschosse, die über die Grenze flogen, fing Iron Dome ab. Doch die Anlage bietet keinen lückenlosen Schutz: Fünf israelische Zivilisten, darunter ein Kind, kamen letzte Nacht ums Leben, mehrere erlitten Verletzungen.

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Die IDF bombardierte im Gegenzug militärische Ziele in Gaza, wobei laut palästinensischen Angaben 35 Menschen starben, darunter mindestens zehn Kinder. Über 200 Palästinenser wurden verletzt. Der IDF-Sprecher Jonathan Conricus betonte, die Armee „unternehme große Anstrengungen“, um die Zahl der zivilen Opfer zu minimieren, und attackiere einzig „militärische Ziele, die für militärische Zwecke genutzt werden“. Unter anderem attackierte die Luftwaffe letzte Nacht zwei mehrstöckige Gebäude, von denen eines nach IDF-Angaben als Hauptquartier für die Aufklärungseinheit der Hamas gedient hatte. Zudem tötete sie hochrangige Kommandeure der Hamas sowie des Islamischen Dschihads, einer weiteren Terrororganisation.

Begonnen hat sich die jüngste Eskalation knapp 70 Kilometer südöstlich von Tel Aviv: in Jerusalem, dem wunden Herzen des israelisch-palästinensischen Konflikts. Seit Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan Mitte April liefern sich dort allabendlich muslimische Palästinenser und israelische Sicherheitskräfte heftige Straßenkämpfe. Entzündet hatte sich der Konflikt an Absperrungen, die Israels Polizei auf einem bei Palästinensern beliebten Platz in Ostjerusalem aufgestellt hatte. Die Gatter wurden abgeräumt, der Zorn blieb. Am Montag drangen Polizisten in die Al-Aksa-Moschee ein, die drittheiligste Stätte des Islams. Die Beamten beschrieben den Einsatz als notwendig, um die Ausschreitungen unter zu Kontrolle zu bringen, viele Muslime dagegen sahen darin eine unverzeihliche Missachtung ihres Heiligtums. Ein weiterer Brennpunkt ist das Ostjerusalemer Viertel Sheich Jarrah, wo mehreren palästinensischen Familien die Zwangsräumung droht, sollten sie einen Rechtsstreit um ihre Grundstücke gegen eine israelische Organisation verlieren. Der Raketenbeschuss, ließ ein Sprecher der Hamas gestern wissen, sei eine Reaktion auf Israels „Verbrechen und Aggression gegen die Heilige Stadt und seine Aggression gegen unser Volk in Sheich Jarrah und die Al-Aqsa-Moschee“.

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Mit ihren Schlägen auf das wohlhabende, lebensfrohe Tel Aviv, im Rest des Landes oft als hedonistische Blase verspottet, trifft die Hamas den Jüdischen Staat an einem empfindlichen Punkt. Entsprechend hart dürften die Gegenschläge ausfallen. Die Armee scheint sich auf eine längere Auseinandersetzung einzustellen, der sie überdies schon einen Namen verliehen hat: „Wächter der Mauern“. Ihrem Sprechers zufolge hat sie mehrere Divisionen an die Grenze zu Gaza verlegt und 3000 Reservisten mobilisiert.

„Ich denke, Israel war ziemlich überrascht davon, wie aggressiv Hamas angegriffen hat“, sagt der israelische Sicherheitsexperte Amos Harel, Militäranalyst für die Zeitung Haaretz. Dies lasse dem Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu „nicht sehr viel Spielraum. Es gibt enormen Druck sowohl von der Rechten als auch von der Linken, aggressiv zu reagieren“. Die Raketen auf Tel Aviv verändern Lagebild und Kalkül der israelischen Strategen. Die Hamas dürfte dafür einen höheren Preis zahlen als für ihren Beschuss der Städte im Süden, der sich heute fortsetzte, während die Lage im Zentrum des Landes sich zumindest zwischenzeitlich beruhigt hatte.

„Davon abgesehen, dass es eine harte, schlaflose Nacht war, denke ich daran, dass die Menschen im Süden diesen Alptraum oft erleben“, sagt Aharon Micha aus Holon. „Kein Land würde sich damit abfinden, dass seine Bürger so leben müssen. Das ist kein normales Leben in einem souveränen Staat.“

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