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Die Einigung zum Nachzug haben die beiden Fraktionschefs Andrea Nahles und Volker Kauder maßgeblich verhandelt.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Koalitionsknackpunkte: Union und SPD einig – aber uneins

Zum Familiennachzug für Flüchtlinge wollen sich Union und SPD geeinigt haben – worauf, darüber streiten sie noch.

Von Robert Birnbaum

Am Ende musste der Maschinenraum ran. Zwei Tage und Nächte lang haben sich die Unterhändler von CDU, CSU und SPD über eine Lösung für den Familiennachzug von Flüchtlingen mit subsidiärem Schutz gezankt, oft lautstark und erregt. Dienstagfrüh luden die Fraktionschefs zum Arbeitstreffen in kleinem Kreis: Volker Kauder, Andrea Nahles und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, dazu je ein Experte aus den Fraktionen und die Fachminister – am Vormittag meldete die kleine Truppe Vollzug. Das war hohe Zeit, denn am Donnerstag soll der Bundestag schon über den neu formulierten Gesetzentwurf beschließen. Nur einen womöglich folgenschweren Schönheitsfehler hat die Einigung: Alle lesen sie unterschiedlich.

Als Erster versuchte Martin Schulz die Deutungshoheit zu gewinnen: „Die SPD hat über die im Sondierungsergebnis hinaus vereinbarten 1000 Angehörigen pro Monat eine deutlich weitergehende Härtefallregelung – wie vom SPD-Bundesparteitag gefordert – durchgesetzt“, kommentierte der SPD-Vorsitzende. Beim CSU-Mann Dobrindt klingt das aber anders: „Neue Härtefallregelungen, die ein Mehr an Zuwanderung bedeutet hätten, gibt es nicht.“ Nicht genug der Verwirrung, verkündet die Unionsseite, sie habe den „Anspruch“ auf Familiennachzug abgeschafft, während die SPD die Wiederaufnahme ebendieses Nachzugs feiert.

Es überwiegt die taktische Wortklauberei

Doch was wie himmelschreiender Widerspruch erscheint, ist überwiegend taktische Wortklauberei. Das zeigt sich schnell beim Blick in den Text, den die Abgeordneten von Union und SPD – quasi im Vorgriff auf eine künftige gemeinsame Koalition – am Donnerstag billigen sollen. Er fasst in Juristensprache, was schon im Sondierungspapier vereinbart war: Der Familiennachzug für Menschen mit subsidiärem Schutz bleibt vorerst ausgesetzt. Spätestens ab dem 1. August soll für diese Flüchtlingsgruppe eine Neuregelung gelten, die monatlich 1000 Eltern, Ehegatten oder minderjährigen Kindern den Nachzug ermöglichen kann.

So weit entspricht das dem Sondierungsergebnis. Zwei Klarstellungen kommen hinzu: Erstens wird festgehalten, dass kein Angehöriger einen Anspruch auf Nachzug bekommt. Das ist logische Folge der Kontingentlösung. Obergrenzen vertragen sich nicht mit einem Recht auf Nachzug. Insofern stimmt die etwas spitzfindige Lesart von CDU und CSU, dass der Anspruch auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ab Jahresmitte abgeschafft wird. An seine Stelle tritt aber das Monatskontingent für enge Angehörige, die „aus humanitären Gründen“ das Visum erhalten können. Und da hat dann wieder die SPD recht: Auf diese Weise wird die bisher gestoppte Familienzusammenführung wieder möglich.

Die generelle Härtefallklausel bleibt unberührt

Die zweite Klarstellung betrifft die Härtefälle. In der Sondierung war der Punkt offengeblieben. Jetzt wird festgehalten: Die generelle Härtefallklausel für alle Ausländer „bleibt unberührt“ – auch für Subsidiäre und unabhängig vom Kontingent. Das heißt theoretisch 1000 plus x. Allerdings ist das x in der Praxis sehr klein. Zwischen 60 und 100 Menschen wurden 2017 als Härtefälle anerkannt, weil die Behörden die Vorschrift eng auslegen. Versuche der SPD-Unterhändler, die Regel auszuweiten, blockte die Union ab. Insofern hat Dobrindt recht damit, es gebe keine „neuen“ Härteregeln – mit Betonung auf „neu“.

SPD-Vize Ralf Stegner zieht denn auch eine nüchterne Bilanz. Das sei „nur ein kleiner Fortschritt“, sagt er: „Mit einer Partei, die fanatisch dagegen kämpft, dass Kinder zu ihren Eltern kommen, war mehr nicht rauszuholen.“ Zugleich verweisen Stegner und die am Kompromiss beteiligte SPD-Fraktionsvize Eva Högl darauf, dass jetzt nur Eckpunkte vereinbart seien. Man werde weiter verhandeln, etwa über großzügigere Verwaltungsvorschriften.

Schulz setzt gegen Zweifel laute Siegesrufe

Doch ob das reicht, um die Kritiker der großen Koalition in der SPD zufriedenzustellen? „Wie Sie sehen, sehen Sie nix“, kommentiert sarkastisch die Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt in der SPD. Die vom Parteitag verlangte „weitergehende Härtefallregelung“ könne man nicht entdecken. Juso-Chef Kevin Kühnert, Anführer der Groko-Gegner, spricht etwas zurückhaltender von einem „ungedeckten Scheck“, den die SPD-Abgeordneten ausstellten, wenn sie im Bundestag mit der Union zusammen die Hand heben. Ob es danach wirklich die versprochene „weitergehende Härtefallregelung“ geben werde – nicht mehr als eine vage Hoffnung sehe er.

Schulz setzt gegen solche Zweifel laute Siegesrufe. „Die SPD hat sich mit einer guten Einigung beim Familiennachzug durchgesetzt“, schreibt der SPD-Chef an die eigene Basis. Das mag die Union so nicht stehen lassen. Durchgesetzt, sagt Kauder vor einer Sitzung seiner Fraktion, habe sich „das zwischen CDU und CSU formulierte Regelwerk zur Migration“.

Als Familie zusammenleben zu können erleichtert vielen Flüchtlingen die Anfangszeit in einem ihnen fremden Land.

© Patrick Pleul/dpa

"Angehörige müssten so schnell wie möglich kommen"

Menschen- und Kinderrechtsorganisationen kritisierten die Einigung. „Dieses Ergebnis ist eine bittere Enttäuschung“, meinte Pro Asyl. Auch der Migrationsökonom Herbert Brücker vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigte sich enttäuscht. Angehörige müssten „eigentlich so schnell wie möglich kommen“, sagte er dem Tagesspiegel. Ansonsten drohten psychosoziale Verwerfungen.

Auch aus der SPD kam Widerspruch gegen die Erfolgsmeldung der eigenen Führung. „Wie Sie sehen, sehen Sie nix“, erklärte die Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt in der SPD. Die Einigung entspreche „keinesfalls den Forderungen des SPD-Parteitags“. Auch die Jusos kritisierten das Ergebnis scharf.

Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz, die meist aus Syrien stammen, können im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen seit März 2016 ihre Angehörigen nicht mehr nach Deutschland holen. Die Regelung läuft im März aus. Da der Bundestag schon am Donnerstag über die Verlängerung der Aussetzung abstimmen will, standen die Verhandlungen unter Zeitdruck. Union und SPD wollen die Aussetzung nun bis 31. Juli verlängern. Danach sollen die neuen Regeln gelten, deren Details noch vereinbart werden müssen.

Ebenfalls seit März 2016 galt die Härtefallregelung, von ihr profitierten aber nur wenige Familien. Im Jahr 2017 wurden nach offiziellen Angaben 96 Visa in Härtefällen erteilt. (mit ade, hmt)

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