zum Hauptinhalt
Die Lage in der arabischen Welt im Überblick.

© Tsp

Umstürze in der arabischen Welt: Und jetzt, Deutschland? Und jetzt, EU?

Wegen der Lage in Libyen, Ägypten und Tunesien will Deutschland die EU-Politik in Nordafrika und Arabien stärker mitbestimmen. Das birgt Konfliktpotenzial. Und was geschieht in Algerien, Bahrain, Marokko?

Unter den EU-Mitgliedstaaten hat ein Wettlauf begonnen, bei dem es darum geht, möglichst schnell Kontakte zur politischen Führung und der Gesellschaft Ägyptens nach dem Sturz des Präsidenten Hosni Mubarak aufzubauen. Gleichzeitig steht das Wettrennen aber auch im Zeichen der künftigen Führungsrolle bei der EU-Mittelmeerpolitik. Neben Italien und Spanien zeichnet bisher vor allem Frankreich für diese Rolle verantwortlich – sie wird im Berliner Außenamt inzwischen infrage gestellt.

Bei der europäischen Besuchsdiplomatie in Ägypten, die in dieser Woche auf Touren kommt, herrscht ein regelrechtes Tohuwabohu – ein Spiegelbild der uneinheitlichen Außenpolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten angesichts der Revolten in Nordafrika und im Nahen Osten. Als erster europäischer und westlicher Regierungschef überhaupt flog der britische Regierungschef David Cameron nach Kairo und traf dort am Montag unter anderem Verteidigungsminister Hussein Tantawi, den aktuell starken Mann Ägyptens. Cameron kam mit dem Besuch der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton zuvor, die am Dienstag in Kairo unter anderem mit Außenminister Ahmed Abul Gheit über den politischen Übergang am Nil sprach. Dass Ashtons Landsmann Cameron sich vordrängelte, obwohl die europäische Außenbeauftragte auf Wunsch der EU-Mitglieder nach Kairo geschickt wurde, wird im Berliner Außenministerium „mit Erstaunen“ gesehen – eine höfliche Umschreibung dafür, dass man das Timing des Cameron-Besuchs für misslungen hält.

Allerdings zögert auch Deutschlands Außenminister nicht allzu lange mit seinem eigenen Ägypten-Besuch – an diesem Mittwoch wird Guido Westerwelle ebenfalls in Kairo erwartet. Deutschland will künftig die Mittelmeerpolitik der EU entscheidend mitprägen. Das ließ sich an einem Schreiben Westerwelles an seine EU-Kollegin Ashton ablesen. Darin forderte der deutsche Chefdiplomat vergangene Woche, dass sich EU-Finanzhilfen an die Staaten in der südlichen und östlichen Nachbarschaft der EU künftig an „guter Regierungsführung, politischen Reformen und Fortschritten bei der Rechtsstaatlichkeit“ orientieren sollten.

Im Auswärtigen Amt heißt es, dass die Diskussion darüber, welche EU-Staaten in der Mittelmeerpolitik demnächst das Sagen haben werden, im Grunde erst beginne. Allerdings sei die bisherige Führungsrolle von Mittelmeeranrainern wie Frankreich und Italien „massiv infrage gestellt“. Was im Umkehrschluss bedeutet: Deutschland will auf die EU-Mittelmeerpolitik größeren Einfluss nehmen.

Frankreich hat zuletzt viel Kredit in Nordafrika verspielt. Die einstige Kolonialmacht hat nach der „Jasmin-Revolution“ zahlreiche Tunesier gegen sich aufgebracht, als bekannt wurde, dass Außenministerin Michèle Alliot-Marie während des Umsturzes dem Regime des Machthabers Zine el Abidine Ben Ali die Unterstützung angeboten hatte. Frankreichs Nähe zum Regime in Tunis diente auch dem Zweck, Stabilität am südlichen Rand des Mittelmeers zu wahren und einen Exodus von Flüchtlingen zu verhindern. Ein ähnliches Kalkül verfolgte Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi, der 2008 einen „Freundschaftsvertrag“ mit Libyens Staatschef Muammar al Gaddafi abschloss.

Mit den Umstürzen in der arabischen Welt sieht man nun im Auswärtigen Amt die informelle europäische Arbeitsteilung, wonach sich die südlichen EU-Mitgliedsländer vorrangig um die Mittelmeerregion und die EU-Staaten im Norden um Europas Partner im Osten kümmern, auf dem Prüfstand. „Das ist ein Umbruch, der beileibe nicht nur die Südschiene interessiert, sondern eine weltpolitische Dimension hat“, heißt es.

Algerien
In Algerien rumort es, aber bisher kommen noch keine Massen zu den Demonstrationen der Opposition. Am vergangenen Sonnabend waren es etwa 300 Demonstranten, am Wochenende davor 2000. Allerdings standen ihnen 30 000 Polizisten gegenüber, hunderte Menschen wurden festgenommen. Das einzige Zugeständnis des Militärregimes mit Präsident Abdelaziz Bouteflika als Fassade ist die Aufkündigung des Ausnahmezustands am Dienstagabend. Bouteflika hatte das schon Anfang Februar angekündigt. Der Ausnahmezustand war 1992 verhängt worden. Damals hatte die Islamische Heilsfront (FIS) bei den ersten freien Parlamentswahlen einen triumphalen Sieg errungen. In den Jahren bis 1992 war Algerien das Epizentrum demokratischer Reformen in der arabischen Welt gewesen. Ein Mehrparteiensystem schien sich abzuzeichnen. Doch dann annullierte die Regierung die Wahl und verbot die FIS, was das Land in einen Bürgerkrieg stürzte, in dem mehr als 150 000 Menschen getötet wurden.

Diese traumatische Erfahrung lässt die Algerier möglicherweise auch davor zurückschrecken, für einen Umsturz zu mobilisieren. Obwohl immer mehr junge Menschen davon überzeugt sind, dass nur eine Revolte Veränderung bringen kann. Zwar rechnen viele Algerier es Bouteflika hoch an, dass er das Land stabilisieren und die Armeespitze zumindest aus der Tagespolitik verdrängen konnte. Allerdings hat er keine politische Öffnung zugelassen und auch die explodierenden Einnahmen aus Erdöl und Gas visionslos verteilt und in die Taschen des Regimes gewirtschaftet hat. Es gibt keine politisch legale Gruppe, welche die Frustration arbeitsloser Jugendlicher und hoffnungsloser Universitätsabsolventen einfangen kann.

Bahrain
König Hamad bin Issa al Chalifa setzt jetzt klar auf Deeskalation. Am Dienstag hat er 25 führende Politiker der schiitischen Bewegung „Al Haqq“ freigelassen. Ihre Festnahme im August 2010 hatte die schiitische Bevölkerungsmehrheit in dem Inselstaat empört. Damit ist das Königshaus auf eine der Hauptforderungen der Demonstranten eingegangen. Die Gewerkschaften hatten ihren geplanten Generalstreik bereits abgesagt, nachdem Kronprinz Salman am Sonnabend die Armee zurückgerufen hatte. Bei der Räumung des Perlenplatzes hatte sie mindestens vier Menschen getötet Salman bot auch den Dialog an, dem die Opposition jedoch kritisch gegenübersteht, weil er in den vergangenen Jahren einfach nichts gebracht hat.

„Al Haqq“ hatte sich 2005 gegründet, weil sie den Kurs der moderaten, ebenfalls schiitischen Al-Wefaq-Bewegung, die auch im Parlament sitzt, für erfolglos hält und kompromissloser für ihre Forderungen kämpft. Zu den sehr konkreten politischen Forderungen der Demonstranten gehört eine Stärkung des Parlaments, dessen gewählte Kammer weniger Macht hat als die Kammer, deren Mitglieder der König ernennt. Außerdem soll das sunnitische Regime die Einbürgerungspolitik beenden, mit der sie nach Ansicht der Schiiten die Bevölkerungsbalance zugunsten der Sunniten verändern will: Syrer, Iraker und andere sunnitische Araber erhalten die Staatsbürgerschaft, zusammen mit Jobangeboten im staatlichen Sektor, oft im Sicherheitsgewerbe.

Der winzige Staat, dessen Fläche kleiner als die der Stadt Hamburg ist, hat nur eine Million Einwohner, hinzu kommen 500 000 Gastarbeiter. Als der jetzige Herrscher 1999 an die Macht kam, waren die Hoffnungen auf politische Reformen groß. Denn die Forderungen nach mehr politischer Partizipation und mehr sozialer Gerechtigkeit erhebt die Opposition seit vielen Jahren. In den 90er Jahren erlebte Bahrain eine regelrechte Intifada. Anders als in Libyen hat das Land damit eine starke Oppositionsbewegung, deren Forderungen klar sind. Doch Chalifa hat mit der neuen Verfassung von 2002 sein Emirat zwar in ein Königreich umgewandelt, dem Parlament aber weniger Macht gegeben, als es in den 70er Jahren schon hatte, bevor es 1975 aufgelöst wurde. Dennoch konnte der König die Al-Wefaq-Bewegung 2006 dazu bewegen, an den wenig transparenten Parlamentswahlen teilzunehmen, bei denen sie 17 von 40 Sitzen gewannen. Doch politische Fortschritte blieben aus. Sozialen Unmut erregen die niedrigen Löhne im Privatsektor, in dem 60 Prozent der Menschen arbeiten. Im staatlichen Sektor, der mit vielen Privilegien gesegnet ist, werden überproportional viele Sunniten beschäftigt.

Die Ereignisse in Bahrain werden aufgrund seiner strategischen Lage in Saudi-Arabien und den USA mit größter Sorge beobachtet. Saudi-Arabien ist mit Bahrain durch eine Brücke verbunden. Viele Saudis fahren am Wochenende in das weniger konservative Königreich zum Entspannen. Im Osten Saudi-Arabiens lebt allerdings auch die schiitische Minderheit. Zugeständnisse in Bahrain könnte die saudischen Schiiten in ihren Forderungen bestärken, fürchtet man in Riad. Allerdings hat Riad auch Druckmittel: Es exploriert ein gemeinsames Ölfeld, Bahrain wird am Gewinn beteiligt. Die USA wiederum haben in Bahrain ihre 5. Flotte stationiert und darüber hinaus wenig Ahnung vom Land. LautWikileaks hat der US-Botschafter 2009 dem König bescheinigt, er sei „sympathisch und einnehmend“, treibe die Wiederbelebung des Parlaments voran und stärke die Institutionen.

Marokko
Erstmals seit dem Ausbruch der Revolten in der arabischen Welt hatten am Sonntag auch in Marokko hunderte Menschen für demokratische Reformen demonstriert. Daraufhin hat König Mohammed VI. am Montagabend Reformen angekündigt, ohne diese genauer zu benennen. Am Dienstag gab es weitere Demonstrationen, bei denen die Freilassung der zuvor festgenommenen Menschen verlangt wurde. Mitte Februar hatte die Regierung die Lebensmittelsubventionen für das laufende Jahr fast verdoppeln lassen, um Unmut zuvorzukommen.

Bürgerinitiativen und Jugendgruppen hatten am Sonntag zum „Tag der Würde“ mit Kundgebungen in etwa 20 Städten des nordafrikanischen Landes aufgerufen. Sie verlangten unter anderem eine Einschränkung der Macht Königs Mohammed VI. Insgesamt zehntausende sollen auf die Straßen gegangen sein. In der Hauptstadt Rabat sollen es nur etwa 1000 Demonstranten gewesen sein. Im Anschluss gab es schwere Krawalle, bei denen fünf Menschen in einer in Brand gesetzten Bankfiliale in Al Hoceima starben. 128 weitere Menschen seien verletzt worden, darunter 115 Angehörige der Sicherheitskräfte.

Der König entscheidet über die Zusammensetzung der Regierung, das Parlament kann er auflösen. Der vom Propheten abstammende König ist zugleich geistliches Oberhaupt der muslimischen Bewohner, was eine Rebellion erschwert. Sein als „roter Prinz“ verschrieener Cousin Moulay Hicham hatte im Januar vermutet, dass die Revolte auch Marokko erreichen wird, weil die weitreichende Macht des Königs mit dem Prinzip des Bürgers nicht zu vereinbaren sei.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false