„Wir geben ihnen auf die Fresse“: Ukraine begeht Unabhängigkeitstag im Schatten des Krieges – der Überblick
Vor 31 Jahren erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit. Am Feiertag herrscht in Kiew große Nervosität, und Präsident Selenskyj findet deutliche Worte.
Im Schatten des seit einem halben Jahr andauernden russischen Angriffskriegs begeht die Ukraine am Mittwoch ihren Nationalfeiertag. Der Unabhängigkeitstag sei ein wichtiges Datum für die Ukrainer und Ukrainerinnen - „und damit leider auch für unseren Feind“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj.
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In Kiew herrschte Nervosität wegen befürchteter russischer Raketenangriffe auf große Städte. Selenskyj rief die Bevölkerung auf, sich an die Ausgangssperren zu halten und bei Luftalarm in Sicherheit zu bringen. „Denkt daran, wir sollen alle gemeinsam den Sieg erleben“, sagte er.
Aus dem Ausland erhält das kriegsgeplagte Land weitere Waffenhilfen. So kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ein deutsches Rüstungspaket mit Flugabwehrsystemen, Raketenwerfern, Munition und Anti-Drohnen-Geräten an. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg drängte die Unterstützer der Ukraine zu mehr Militärhilfe. „Die Nato-Alliierten sollten dringend mehr tun, so dass die Ukraine als souveräne unabhängige Nation überleben kann“, sagte Stoltenberg der Zeitung „Die Welt“.
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Vor 31 Jahren, am 24. August 1991, hatte die damalige Sowjetrepublik Ukraine nach dem gescheiterten Putsch konservativer Kräfte gegen Generalsekretär Michail Gorbatschow ihre Unabhängigkeit erklärt. Dessen Nachnachfolger im Kreml, Wladimir Putin, befahl vor einem halben Jahr den Angriff auf das Nachbarland, um es wieder unter russische Kontrolle zu bringen.
Seit dem 24. Februar sind große Teile der Ukraine verwüstet worden, russische Truppen halten etwa ein Fünftel des Landes besetzt. Zwar hat die Ukraine unter großen Opfern standgehalten, doch ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.
Selenskyj: Wir geben Russland „auf die Fresse“
Selenskyj beschrieb den Abwehrkampf gegen die russische Aggression mit martialischen Worten. Mit der Annexion der Krim 2014 hätten die Russen entschieden, sein Land zu besetzen, sagte er zum Abschluss der sogenannten Krim-Plattform vor Journalisten. „Als sie das 2014 beschlossen haben, hat die Welt ihnen nicht einfach eins auf die Fresse gegeben, und so sind sie weiter und weiter und weiter gegangen. Aber wir geben ihnen auf die Fresse.“
Mit seinen Angriffen und Gewalttaten zeige Russland, dass es nicht verhandeln wolle.
Später in seiner abendlichen Videoansprache am Dienstag dankte Selenskyj für die internationale Unterstützung, die die Ukraine auf dem Forum zur Heimholung der 2014 von Russland einverleibten Krim erfahre. Deutschland, Polen, die Türkei, Japan und andere Länder sagten Kiew Hilfe zu. „Die Krim ist ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Staates“, sagte Selenskyj. Die Ukraine werde die Halbinsel im Schwarzen Meer befreien und ihren Landsleuten dort die Freiheit bringen, die ihnen zustehe.
Sorge vor russischen Angriffen zum Feiertag
Die ukrainische Sorge vor verstärkten russischen Angriffen anlässlich des symbolisch wichtigen Feiertags wurde international geteilt. Die USA warnten Russland vor Angriffen gegen zivile Ziele.
„Abschließend möchte ich meine russischen Kollegen daran erinnern, dass die Welt zuschaut, während sich der Tag der Unabhängigkeit der Ukraine nähert“, sagte der stellvertretende US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, Richard Mills, vor dem Sicherheitsrat. „Das sollte nicht nötig sein zu sagen, aber bitte bombardieren Sie keine Schulen, Krankenhäuser, Waisenhäuser oder Heime.“
Die USA würden weiterhin alle Verstöße gegen das Völkerrecht verfolgen. Zuvor hatte die US-Regierung ihre Bürger zum sofortigen Verlassen der Ukraine aufgefordert.
Tauziehen um Expertenreise zum AKW Saporischschja
Die Vereinten Nationen forderten von Moskau und Kiew erneut, einen Besuch des umkämpften Kernkraftwerks Saporischschja durch unabhängige Experten zu ermöglichen. „Wir fordern die Parteien erneut auf, der Mission (der Internationalen Atomenergiebehörde) IAEA sofortigen, sicheren und ungehinderten Zugang zum Standort zu gewähren“, sagte die UN-Vertreterin Rosemary DiCarlo vor dem Sicherheitsrat in New York.
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Sie sprach von „fast täglichen Meldungen über alarmierende Vorfälle im Werk“. Russland und die Ukraine werfen sich gegenseitig den Beschuss des größten Atomkraftwerks in Europa vor.
Die prinzipiell von allen Seiten unterstützte IAEA-Mission scheiterte bislang an der Streitfrage, ob die Experten über russisch kontrolliertes Territorium oder - was völkerrechtlich korrekt wäre - ukrainisches Gebiet anreisen. Schon vor zwei Wochen hatte das russische Außenministerium den Vorwurf erhoben, eine Einigung sei durch Einspruch der UN-Führung verhindert worden.
Am Dienstag kritisierte eine Ministeriumssprecherin die UN erneut und sprach von einem „falschem Spiel des Sekretariats der Vereinten Nationen“.
Waffen aus Deutschland für eine halbe Milliarde Euro
Das von Bundeskanzler Scholz zugesagte Rüstungspaket hat nach Angaben eines Sprechers einen Umfang von etwa 500 Millionen Euro. Kiew solle drei weitere Flugabwehrsysteme des Typs Iris-T, ein Dutzend Bergepanzer und 20 auf Pick-ups montierte Raketenwerfer erhalten. Das Geld müsse vom Haushaltsausschuss noch freigegeben werden.
Die Waffen sollten „maßgeblich in 2023“ geliefert werden, aber „einiges deutlich früher“. Ein Teil der genannten Rüstungsgüter war schon früher zugesagt worden. Kampf- und Schützenpanzer, um die Kiew seit längerem dringend bittet, stehen nicht auf der Liste.
Der scheidende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk begrüßte die Rüstungshilfe. „Wir sind dankbar für diese Zusagen“, sagte er im „heute journal update“ des ZDF. Er äußerte die Hoffnung, „dass auch die anderen Waffen, die schnell lieferbar sind, auch die Ukraine erreichen werden“. Gerade vor dem Winter gehe es um jeden Tag. Melnyk hatte der Bundesregierung oft vorgeworfen, bei Hilfen zu zögern.
Das wird am Mittwoch wichtig
Zum Unabhängigkeitstag wurde in Kiew erwartet, dass noch weitere Länder neue Rüstungszusagen machen. Zu dem doppelt bedeutsamen Datum sendet die ARD ihre „Tagesthemen“ live aus Kiew, moderiert von Caren Miosga. Die Moderatorin habe in den vergangenen Tagen mit Ukrainerinnen und Ukrainern über deren Leben und das Überleben im Krieg gesprochen, teilte der NDR mit.
Drehorte der Reportagereise waren Lwiw und Tscherniwzi sowie Kiew mit seinen Vororten Butscha, Moschtschun und Irpin. (dpa)
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