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In Köln war es in der Silvesternacht vor vier Jahren zu Übergriffen gekommen.

© Maja Hitij/dpa

Traumatherapeutin über Kölner Silvesternacht: Wie lassen sich die Übergriffe vor vier Jahren erklären?

2015 wurden am Kölner Hauptbahnhof hunderte Frauen angegriffen. Welche Rolle spielten dabei eigene Gewalterfahrungen? Ein Interview.

Vier Jahre ist es her, dass in Köln rund um den Hauptbahnhof in der Silvesternacht hunderte Frauen sexuell belästigt wurden. Viele der Täter stammten aus dem Maghreb, einige waren als Flüchtlinge gekommen. Es folgten viele Diskussionen über die deutsche Flüchtlingspolitik. Elise Bittenbinder ist Diplom-Pädagogin, Paar- und Familientherapeutin, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin und hat schon mehrere Geflüchtete behandelt. Außerdem leitet sie die BAfF e.V. - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer.

Frau Bittenbinder, wie erklären Sie sich das, was in Köln passiert ist?
Das war eine aggressive Gruppe, die sich die vielen Menschen und die schlecht vorbereitete Polizei zunutze gemacht haben, um Diebstähle zu begehen und Frauen zu belästigen. Was da passiert ist, ist schrecklich für die Betroffenen. Aber das waren vor allem Tätergruppen, die der Polizei schon bekannt waren.

Und so schlimm das vor Ort für die Menschen war, waren das nicht „die Geflüchteten“, das waren Kriminelle, unter denen auch Geflüchtete waren. Es gibt immer wieder aggressive Menschen, vor allem auch junge Männer. Das ist in Deutschland genauso wie in Syrien.

Die bereits bei der Polizei bekannten Tätergruppen waren teilweise aus Nordafrika. Gibt es kulturelle Faktoren, die die Tat begünstigt haben?
Warum werden die kulturellen Faktoren eigentlich immer in den Mittelpunkt gestellt? Begünstigte Faktoren waren an diesem Tag vermutlich eher der Alkohol, Drogen und das Gruppenphänomen.

Es ist gefährlich, wenn so eine Dynamik entsteht. Wenn manche in der Gruppe damit beginnen, Böller in die Richtung von anderen Menschen zu werfen oder Frauen anzufassen, findet vielleicht auch eine Enthemmung statt. Andere passen sich dann der Gruppe an.

Spielen Gewalterfahrungen in der Vergangenheit eine Rolle, ob Menschen zu Täter werden?
Traumatisierte Personen ziehen sich eher zurück und versuchen in den meisten Fällen eher, ihre gewalttätigen Erfahrungen zu verarbeiten und ein normales Leben zu führen. Ich habe bei meiner Tätigkeit nur wenige Menschen getroffen, denen das alles egal ist.

Kann es passieren, dass jemand gewaltbereiter wird, wenn er selbst Gewalt erfahren hat?
Das kann schon auch vorkommen. In den meisten Fällen richtet sich die Gewalt allerdings nach innen, also gegen sich selbst. Das reicht von Selbstverletzung hin zu Suizidgedanken oder in schlimmen Fällen auch Selbstmordversuchen. Ich habe es in 30 Jahren Therapie-Erfahrung sehr selten erlebt, dass Patienten andere Menschen bedroht haben.

Es kann passieren, dass Menschen, die viel Gewalt erlebt haben, die Gewalt durch Gegenaggression verarbeiten. Dass zum Beispiel Väter, die ihre Kinder nie geschlagen haben, das nach einem Trauma plötzlich tun. Weil sie Flashbacks kommen und in diesen Momenten nicht mehr wissen, wo sie sind und was sie tun. Weil ein Stresslevel da ist, das sie nicht mehr abbauen können.

Was sind denn Flashbacks?
Flashbacks sind ein typisches Phänomen bei traumatisierten Personen. Es ist das Wiedererleben bestimmter Situationen, was zum Beispiel durch Bilder oder Sinneseindrücke wie Gerüche oder Geräusche ausgelöst werden kann. Für die Patienten fühlt es sich so an, als wären sie wieder in der traumatisierenden Situation.

Was sind die Folgen, wenn das Trauma nicht therapiert wird?
Wir haben normalerweise das psychische Potential, schwierige Situationen zu verarbeiten. Aber die Erfahrungen, die nicht wenige Geflüchtete gemacht haben, gehen über dieses Maß hinaus. Einige erkranken an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Ein typisches Merkmal dafür ist ein enorm hohes Stresslevel. Nicht alle haben dann noch die Mechanismen dafür, diesen Stress abzubauen.

Die Traumatherapeutin und Flüchtlingsexpertin Elise Bittenbinder.
Die Traumatherapeutin und Flüchtlingsexpertin Elise Bittenbinder.

© Selina Bettendorf

Sie haben sicher sehr unterschiedliche Patienten, gibt es da einen Konsens? Was sind ihre Hauptanliegen?
Viele der Menschen, die zu uns kommen, haben Gewalt erlebt. Im Herkunftsland oder auf der Flucht. Auch die Anforderungen des Asylverfahrens, die Unsicherheit und die Isolation hier in Deutschland sind zusätzlich belastend.

Ein Beispiel ist ein siebenjähriger syrischer Junge, der zu mir gebracht wurde, weil er kaum noch geredet hat. Er kam deshalb auch nicht in der Schule zurecht. Es hat sicher zwei bis drei Monate gedauert, bis er mir erzählt hat, was ihm passiert ist. Er hat erzählt, dass er miterleben musste, wie sein Onkel in Syrien vor ihm zu Tode geprügelt wurde.

Daraufhin haben die Eltern des Jungen das Anwesen verlassen. Sie sind nach Deutschland geflohen und wollten die Kinder nachholen. Solange haben sie sie bei den Großeltern in Syrien gelassen.

Der Junge, er war damals erst fünf, konnte das nicht verstehen. Er dachte seine Eltern hätten ihn im Stich gelassen. Wenn sie angerufen haben und mit ihm reden wollten, ist er nicht hingegangen und hat gesagt er weiß nicht wer seine Eltern sind. Als sie ihn dann nach Deutschland geholt haben, hat er kaum noch mit ihnen gesprochen.

In der Therapie hat er mir zuerst nur zugehört, später dann mit mir über seine Wut und sein Unverständnis gesprochen. Ich konnte dann mit seinen Eltern reden und ihnen Anregungen geben, wie sie miteinander kommunizieren und das Geschehene verarbeiten können.

Wie sieht so eine Therapie aus?
Klassische Psychotherapien können von ein paar Monaten bis zu drei Jahre dauern. Man sieht sich dann wöchentlich oder zumindest in regelmäßigen Abständen, versucht, eine therapeutische Beziehung aufzubauen, in der über die belastenden Situationen oder aktuelle Probleme gesprochen werden kann. Aber nicht für jeden ist eine klassische Therapie das richtige.

Viele Menschen haben aber auch große Ressourcen, wie eine sichere Perspektive, einen stabilen Freundeskreis oder eine gute Arbeitsstelle, da reicht es manchmal auch aus, die Selbstheilungsprozesse zu unterstützen. Eine Frau hat zum Beispiel ein Buch geschrieben über das, was sie erlebt hat und ich habe sie dabei unterstützt.

Manche nutzen eher Kunst oder das Schreiben als Ausdrucksmöglichkeiten um Dinge zu verarbeiten. Oder sie sind politisch aktiv. Es macht mich manchmal demütig zu sehen, was Menschen, die so vernichtende Gewalt erlebt haben, alles schaffen. Ob ich das auch schaffen würde, weiß ich nicht.

Was sind die positiven Effekte einer Therapie?
Eine junge Patientin von mir wurde von drei Männern entführt. Sie hat gesagt immer, wenn die Situation sie eingeholt hat, hatte sie das Gefühl sie fängt von innen an zu brennen. Jetzt, wenn sie daran denkt, wird ihr manchmal noch warm, aber sie weiß, dass es vorbei ist und das jetzt alles in Ordnung ist in ihrem Leben. Sie hat Mechanismen für sich entwickelt um mit den Flashbacks zu leben.

Es ist faszinierend, wie die Leute wieder für sich ein Leben finden. Klinisch ausgedrückt sprechen wir davon, dass das Erlebte „ins Leben integriert werden kann“, denn diese Dinge können nicht vergessen, aber sie können in den Hintergrund gerückt werden und nicht mehr den Alltag dominieren.

Wie hoch schätzen Sie den Bedarf an Psychotherapeuten für Flüchtlinge?
Es gibt unter den Geflüchteten Menschen, die zum Beispiel Folter erlebt haben. Und das kann man nicht einfach so verarbeiten. Diese Menschen haben meistens große Schwierigkeiten mit der Welt zurechtzukommen und einige von Ihnen benötigen psychosoziale oder psychotherapeutische Unterstützung, um das Erlebte zu verarbeiten. Aktuell ist die bürokratische Situation in Deutschland aber sehr schwierig. In den Psychosozialen Zentren, die speziell für die Bedarfe von Flüchtlingen und Folteropfern ausgerichtet sind, müssen sie im Durchschnitt sieben Monate auf einen Platz warten, wenn sie überhaupt einen bekommen.

Fast die Hälfte aller Anfragen muss abgelehnt werden, weil es zu wenige Kapazitäten gibt, die Dunkelziffer ist hoch. Das ist ein Indiz dafür, dass der Bedarf in vielen Regionen doppelt so hoch ist, wie das aktuelle Versorgungsangebot.

Es bekommt also nicht jeder von ihnen die Hilfe, der auch Hilfe bräuchte?
Nein, weil es nicht genügend Plätze gibt, an die sie schnell und einfach kommen. Jeder, der Hilfe braucht und nicht bekommt, ist einer zu viel.

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