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Terror in Nizza. Der Islamismusexperte Guido Steinberg hält dem türkischen Staatsschef Erdogan vor, Dschihadisten zu ermutigen.

© Eric Gaillard/AP/dpa

Terrorismusexperte warnt vor Politik der Türkei: „Erdogan ermutigt Dschihadisten“

Nach den Anschlägen in Frankreich fordert Guido Steinberg eine harte Linie gegenüber Erdogan. Die Türkei positioniere sich als Schutzmacht für Islamisten in Europa.

Von Frank Jansen

Der Islamismusexperte Guido Steinberg hält dem türkischen Staatsschef Erdogan vor, Dschihadisten zu ermutigen. Steinberg ist langjähriger Kenner des Nahen Ostens, kürzlich ist sein Buch über den Iran erschienen ("Krieg am Golf", Droemer).

Herr Steinberg, innerhalb von zwei Wochen haben Islamisten in Frankreich extrem brutale Anschläge verübt. Warum wird Frankreich so hart vom islamistischen Terror getroffen wie kein anderes Land in der EU?
Frankreich hat die mit Abstand größte und stärkste jihadistische Szene, die schon seit Mitte der 1990er Jahre aktiv ist. In den letzten Jahren hat sich vor allem ausgewirkt, dass Nordafrikaner – vor allem Marokkaner und Tunesier – die dynamischste Gruppe im islamistischen Terrorismus wurden. Die sind unter den französischen Muslimen neben den Algeriern besonders stark vertreten. Beim IS stellten Tunesier, Marokkaner und nordafrikanische Franzosen besonders große Kontingente ausländischer Kämpfer.

Bei den Angreifern handelt es sich um junge Männer, sie handelten bei den Attentaten alleine, sie attackierten mit Messern. Dem Lehrer Samuel Paty wurde der Kopf abgeschnitten, in Nizza schnitt der Täter einer Frau die Kehle durch. Was ist das für ein Tätertyp? Woher kommt diese extreme Verrohung?
Ein Grund ist das Vorbild des IS. Die Organisation hat seit Jahren mit besonders brutalen Videos auf sich aufmerksam gemacht, in denen Menschen bestialisch abgeschlachtet wurden.

Diese Art der Gewalt scheint unter Dschihadisten Maßstäbe gesetzt zu haben, an denen die Täter sich orientieren. Dazu kommt, dass viele islamistische Terroristen in Europa heute einen kriminellen Hintergrund haben und eher zu entgrenzter Gewalt neigen als früher.

In welchem Maße waren die beiden Täter in islamistische Milieus eingebunden? Ist die Bezeichnung „Einzeltäter“ korrekt?
Als Einzeltäter werden in der Fachwelt diejenigen Terroristen bezeichnet, die einen Anschlag alleine planen, organisieren und ausführen. In Paris und Nizza sieht es so aus, als handelte es sich um solche Taten. Die Einbindung in ein islamistisches Milieu ändert daran nichts.

Der Mörder von Samuel Paty wollte den Lehrer dafür bestrafen, dass er im Unterricht beim Thema Meinungsfreiheit über die Mohammed-Karikaturen sprach. Womöglich wollte sich der Attentäter in Nizza dafür rächen, dass Staatspräsident Emmanuel Macron die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen verteidigt. Warum bleibt das Thema seit Jahren derart explosiv?
Die Dschihadisten schätzen das Thema, weil sie ihre Gewalttaten als Protest gegen die angebliche Beleidigung des Propheten Mohammed darstellen können.

Da viele moderatere Islamisten und sogar konservative Muslime die Karikaturen ebenfalls vehement ablehnen, hoffen sie auf Zustimmung im islamischen Mainstream. Außerdem glauben Dschihadisten unter Berufung auf ältere religiöse Autoritäten, dass die Beleidigung des Propheten zwingend mit dem Tod bestraft werden muss.

Welche Rolle spielt der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan? In welchem Maße ist er mit seiner brachialen Kritik an Macron und am Westen wegen der Karikaturen mitverantwortlich für den Anschlag in Nizza?
Die Reaktionen des Präsidenten Erdogan sind ein Beispiel für die Mobilisierung, wie sie die Dschihadisten beabsichtigen. Er machte sich nicht einmal mehr die Mühe, den Mord an Samuel Paty zu kritisieren, sondern sieht das Problem in der französischen Politik. Er mag glauben, was er sagt, aber nutzt die Situation auch, um die Türkei als Schutzmacht der Islamisten in der arabischen Welt und in Europa zu positionieren. Das ist schon seit Jahren türkische Politik.

Hinzu kommen zunehmende Spannungen zwischen Ankara und Paris wegen der Politik in Syrien, Armenien und im östlichen Mittelmeer. Mit seinen Äußerungen ermutigt Erdogan vielleicht auch Attentäter, doch dürften die Täter in Paris und Nizza diese Unterstützung nicht benötigen.

Wie gefährlich ist Erdogans Agitation für Deutschland? Erdogan hat vergangene Woche die Razzia der Polizei in einer Berliner Moschee wegen Verdachts auf Betrug bei der staatlichen Corona-Soforthilfe als „rassistisch“ und „islamfeindlich“ verurteilt.
Erdogans Politik ist problematisch, weil sie auf die Entfremdung zwischen dem deutschen Staat und der türkischen Gemeinschaft abzielt.  Besonders gefährlich ist, dass er nicht zwischen Islamfeindlichkeit und Islamistenfeindlichkeit unterscheidet und Spannungen zwischen Türken und Kurden, aber auch Muslimen und Christen schürt.

Deutschland kann die Effekte dieser Politik begrenzen, indem es die politischen, religionspolitischen und geheimdienstlichen Aktivitäten des türkischen Staates hierzulande stärker einschränkt. Eine harte Linie ist seit Jahren überfällig.

Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ hat sich in der Vergangenheit stets zu Anschlägen bekannt, auch wenn sie damit nichts zu tun hatte. Die Täter wurden als „Soldaten“ des IS bezeichnet. Doch jetzt bleibt die Terrormiliz stumm, selbst der von einem bekennenden IS-Anhänger in Dresden verübte Mord an einem Touristen wird nicht kommentiert. Hat der IS seine Propagandastrategie geändert?
Der IS hat mit seinem Territorium auch die meisten Propagandisten verloren. Sie sind entweder tot, gefangen oder auf der Flucht. Deshalb beschränkt sich die Organisation seit 2019 auf den bewaffneten Kampf im Untergrund im Irak, in Syrien und Afghanistan – ihr heutiges Kerngeschäft. Die alten Kontakte zu Anhängern in Europa scheint es nicht mehr oder nur noch selten zu geben. Die fehlenden Bekennungen sind deshalb ein Zeichen der Schwäche, die Bedrohung durch den IS ist in Europa deutlich zurückgegangen.

Wie stark ist der IS derzeit – in Syrien und Irak sowie in Europa?
Im Irak und Syrien kämpfen insgesamt noch etwa 4000 bis 6000 Mann, in Afghanistan einige hundert bis wenige Tausend, und in Libyen, Ägypten, dem Jemen und im Kaukasus kleinere Gruppen. In diesen Ländern ist der IS auch weiterhin eine Gefahr und profitiert von der dort anhaltenden Instabilität. Trotzdem schafft er es nicht mehr, internationale Anschläge zu verüben.

Das kann sich aber ändern, wenn der Druck auf die Organisation nachlässt. In Europa hat die Organisation tausende Anhänger, von denen im Moment aber nur wenige bereit sind ihr Leben oder ihre Freiheit aufs Spiel zu setzen.

Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen den Anschlägen in Frankreich und dem Attentat vom 4. Oktober auf ein schwules Paar in Dresden?
Bisher sehe ich keinen Zusammenhang, auch wenn die zeitliche Koinzidenz auffällig ist. Ob einer besteht, wird vielleicht deutlicher, wenn Informationen über die Kommunikation des Dresdner Attentäters vor der Tat vorliegen.

 In Dresden hat der sächsische Verfassungsschutz bei der Überwachung des gerade erst aus der Haft entlassenen und als Gefährder eingestuften Attentäters Abdullah Al H. H. versagt. Wäre es besser gewesen, die Polizei hätte sich mit der Observation des Syrers befasst?
Wenn Justiz und Sicherheitsbehörden eine Person für besonders gefährlich halten wie im Fall von Al H. H., muss eine Observation möglich sein. Ob die Polizei das besser gemacht hätte, bleibt Spekulation.

Es ist aber auffällig, dass Deutschland seine Nachrichtendienste insgesamt schwach hält und die Polizei ausbaut. Wenn es um gefährliche Terroristen geht, sollte man in einigen Bundesländern nicht auf den Verfassungsschutz bauen.

Sachsens Innenminister Roland Wöller klagt, wegen des Abschiebestopps nach Syrien sei man Abdullah Al H. H. nicht losgeworden. Sollte die Innenministerkonferenz bei ihrer Tagung im Dezember die Abschiebung zumindest von Gefährdern und Schwerkriminellen in das Bürgerkriegsland ermöglichen?
Das ist im Fall von Islamisten keine gute Idee, denn Syrien ist kein Partner für die Terrorismusbekämpfung. In den letzten Jahrzehnten hat es immer wieder islamistische Terroristen als Instrumente seiner Politik im Irak und Libanon genutzt.

Abgeschobene Gefährder könnten in den Nachbarländern und auch in Europa erneut auftauchen und Menschen töten. Deutschland sollte vielmehr über eine lange Abschiebehaft für ausländische Terroristen nachdenken.

Die Coronakrise verschärft sich massiv auch in Deutschland. Welches Risiko sehen Sie für die Arbeit der Sicherheitsbehörden, speziell bei der Terrorabwehr?
Die Zahl der Terroristen hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Islamisten bleiben stark, Rechtsextremisten legen deutlich zu und auch die heimischen und ausländischen Linken sollten wir nicht aus dem Auge verlieren. Dazu kommt die Gefahr durch Iran und die Hisbollah. Gleichzeitig zeigen sich die Sicherheitsbehörden immer wieder anfällig für Fehler aller Art.

Die deutsche Terrorismusbekämpfung funktioniert insgesamt nicht gut. Die wichtigsten Probleme sind ihre Fragmentierung in fast 40 Behörden, schwerfällige, personalintensive und teure Bürokratien sowie fehlende Kompetenzen besonders bei der technischen Aufklärung. Deutschland muss einiges tun, will es die terroristischen Bedrohungen der kommenden Jahre in den Griff bekommen.

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