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Die Taliban im Präsidentenpalast in Kabul

© AAl Jazeera / FP

Fehleinschätzung des Geheimdienstes: Taliban in Kabul? Für den BND noch zwei Tage zuvor „eher unwahrscheinlich“

Bis zuletzt rechnete der deutsche Geheimdienst nicht mit einem Taliban-Durchmarsch. Doch diese Information war eine wichtige Grundlage für Angela Merkel.

Es ist die wohl eklatanteste Fehleinschätzung in den Tagen vor dem Fall Kabuls. Im Krisenstab der Bundesregierung trägt eine hochrangige Vertreterin des Bundesnachrichtendienstes (BND) am Freitag, 13. August vor, dass die "Taliban-Führung derzeit kein Interesse an der militärischen Einnahme Kabuls" habe. Das geht aus einem Protokollauszug hervor, der dem Tagesspiegel aus der Sitzung vorliegt.

Die Übernahme Kabuls durch die Taliban vor dem 11. September sei "eher unwahrscheinlich", referiert die BND-Vertreterin. Zwei Tage später, am Sonntag 15. August, haben die Taliban Kabul eingenommen. Entsprechend deutlich widerspricht der zugeschaltete stellvertretende Botschafter Deutschlands in Afghanistan, Jan Hendrik van Thiel.

Letztlich wird hier beschlossen, eine Evakuierungsaktion vorzubereiten. Aber erst Montagfrüh startete dann die entsprechende Mission der Bundeswehr - weil man überrumpelt wurde und zudem Kanzlerin Angela Merkel (CDU) erst ein neues Mandat dafür vorbereiten ließ, wenngleich Experten des Auswärtigen Amtes so eine Mission vom noch laufenden Afghanistan-Mandat gedeckt hielten. Die Informationen des Auslandsgeheimdienstes sind normalerweise eine wichtige Grundlage für Entscheidungen der Regierung von Kanzlerin Merkel.

Die BND-Vertreterin betonte zudem in der Krisenstabssitzung, es gebe eine Schutzzusage der Taliban für alle Auslandsvertretungen, aber möglicherweise sie "nicht zuverlässig durchsetzbar".

Fast alle westlichen Staaten haben ihre Botschaften aber nur kurze Zeit nach diesen Aussagen Hals über Kopf räumen müssen; de Deutschen mussten dabei auf US-Hilfe und deren Hubschrauber zurückgreifen.

In Regierungskreisen wird nun immer wieder auf die Verantwortung auch der Geheimdienste verwiesen, die ja auch nicht mit so einem Durchmarsch der Taliban gerechnet – und einer kampflosen Aufgabe der afghanischen Armee mitsamt der Flucht des Präsidenten Aschraf Ghani – gerechnet hätten. Das Problem war auch, dass es nach dem Abzug der Nato-Streitkräfte weniger valide Informationen gab.

In die Freiheit: Blick in eine Bundeswehrmaschine vom Typ A400 M mit aus Kabul geretteten Personen.
In die Freiheit: Blick in eine Bundeswehrmaschine vom Typ A400 M mit aus Kabul geretteten Personen.

© Marc Tessensohn/Bundeswehr/dpa

In Sicherheitskreisen hieß es mit Blick auf die BND-Analyse, der schnelle Zusammenbruch der Kampfmoral der afghanischen Streitkräfte in der vergangenen Woche werde auch auf fatale Signale der Amerikaner zurückgeführt. Am 10. August meldete die „Washington Post“ unter Bezugnahme auf US-Regierungsquellen, Kabul könnte innerhalb von 30 bis 90 Tagen an die Taliban fallen. Dass die Amerikaner dann vom 14. zum 15. August ihre Botschaft räumten und das Personal zum Flughafen brachten, sei „der Sargnagel“ für die Kampfmoral der afghanischen Armee gewesen, hieß es.

Die BND-Analyse fügt sich ein in eine Reihe von Fehleinschätzungen, die nun das Rausholen möglichst vieler Menschen erschweren, die der Bundeswehr geholfen oder für Entwicklungsorganisationen und deutsche Medien gearbeitet haben und von den Taliban als Verräter gebrandmarkt werden.  Bereits Mitte Juni hatten die Länder-Innenminister ein unbürokratisches Programm für Visaerteilungen erst nach Ankunft in Deutschland gefordert, aber bis zum Fall Kabuls sperrte sich vor allem Innenminister Horst Seehofer (CSU) gegen so eine Lösung.

Tausende Afghaninnen und Afghanen, die nach Deutschland sollen, sitzen nun in Kabul fest, der Weg zum Flughafen gilt wegen der Taliban-Checkpoints als hochgefährlich. In Doha versucht der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Markus Potzel, auszuloten, unter welchen Bedingungen die Taliban den in Kabul und anderen Städten festsitzenden afghanischen Ortskräften freies Geleit zum Flughafen gestatten würden.

Der riskante Evakuierungseinsatz am Flughafen der afghanische Hauptstadt Kabul kann längstens bis zum 30. September dauern. Das geht aus dem Beschluss des Bundeskabinetts von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vom Mittwoch hervor, der dem Tagesspiegel vorliegt.

„Im Rahmen verfügbarer Kapazitäten soll sich die Evakuierung auch auf Personal der internationalen Gemeinschaft sowie weitere designierte Personen, inklusive besonders schutzbedürftige Repräsentantinnen und Repräsentanten der afghanischen Zivilgesellschaft, erstrecken“, wird im Anschreiben zu der Vorlage von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Außenminister Heiko Maas (SPD) betont.

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Es können bis zu 600 Soldatinnen und Soldaten eingesetzt werden. „Die einsatzbedingten Zusatzausgaben für den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte werden bis zum 30. September 2021 voraussichtlich insgesamt rund 40 Millionen Euro betragen“, betonen die Minister. „Mit der Implosion der afghanischen Regierung und der Machtübernahme durch die Taliban sind die örtlichen Sicherheitsstrukturen in der Hauptstadt Kabul weggebrochen. Die Lage ist außerordentlich unübersichtlich.“

Der Einsatz, dessen Kosten mit 40 Millionen Euro veranschlagt werden, erfolge in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für Einsätze bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland, „insbesondere auf der Grundlage von Artikel 87a Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes“.

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Dem Kabinett zufolge soll der Bundestag am 25. August das neue Mandat nachträglich billigen. Dies ist möglich, weil die Regierung „Gefahr im Verzug“ sieht. Die Tage vor der sehr spät angelaufenen Evakuierungsaktion, das monatelange Verhaken mehrerer Ministerien in der Frage, welche Ortskräfte wie und wann nach Deutschland dürfen, haben auch die Frage nach der Verantwortung dafür in der Bundesregierung von Merkel aufgeworfen. Und ob nicht wegen Verfahrensfragen mehrere Tage verloren wurden.

Dem Tagesspiegel liegt ein Dokument vor, in dem Juristen des Auswärtigen Amtes ebenfalls schon am Freitag (13. August) eine Stellungnahme zur „Parlamentarischen Beteiligung bei Entsendung militärischer Kräfte zur Absicherung unserer Maßnahmen in Kabul“ vorgelegt haben. Zu diesem Zeitpunkt war die Bundeswehr schon für den Evakuierungseinsatz bereit.

Der wichtigste Punkt: Das bestehende, vom Bundestag beschlossene Afghanistan-Mandat zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am Nato-geführten Einsatz „Resolute Support“ habe noch eine Gültigkeit bis zum 31. Januar 2022 und sei eine „hinreichende Grundlage für eine derartige Entsendung“. Merkel und Kramp-Karrenbauer bestanden aber darauf, ein neues Mandat zu erarbeiten, erst am Montagmorgen lief dann die Rettungsaktion von Deutschland aus an. Das Kanzleramt bestreitet, dass die Mandatsfrage zu einer Verzögerung geführt hat.

Ein aus Kabul evakuiertes Paar nach der Landung in Taschkent vor einem Transportflugzeug der Bundeswehr
Ein aus Kabul evakuiertes Paar nach der Landung in Taschkent vor einem Transportflugzeug der Bundeswehr

© dpa/Marc Tessensohn/Bundeswehr

Kann auf die Taliban für freies Geleit eingewirkt werden?

Immer zentraler wird die Frage, wie die in Kabul festsitzenden, auf eine Ausreise hoffenden Afghaninnen und Afghanen überhaupt zum von den US-Streitkräften gesicherten militärischen Teil des Flughafens kommen können, da die Taliban immer mehr Checkpoints errichten.

Am Freitag reist Merkel zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Kann er womöglich auf die Taliban einwirken, dass sie auch afghanischen Ortskräften freies Geleit geben? „Man muss irgendwann auch mit den Taliban reden“, heißt es in deutschen Regierungskreisen. Markus Potzel, früher selbst Botschafter in Kabul und seit 2017 Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, soll in Doha ausloten, was machbar ist, dort sitzen Vertreter Katars, US-Unterhändler sind dort – und Vertreter der Taliban.

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