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© Sascha Schürmann, dpa

Megaprojekt: Stuttgart 21: Bahnhof verstehen

Stocker wird heute wieder demonstrieren, Drexler wird in die Kameras lächeln, und auch Heimerl wird da sein. Weil angefangen wird, was er sich vor 22 Jahren ausdachte: "Stuttgart 21" – das gigantischste Schienenprojekt der Republik.

Seit Monaten geht das nun schon so. Auf dem Weg in sein Büro im Stuttgarter Rathaus muss er jeden Morgen vorbei an diesem überdimensionierten Plakat in der Empfangshalle. „Stuttgart 21“ steht darauf, „unsere grüne Stadt.“ Und darunter ein Panorama aus Parks, glücklichen Menschen und voll verglasten Büros.

„Überall diese Jubelarien“, stöhnt Gangolf Stocker über den Besprechungstisch, „ich kann es nicht mehr sehen.“ Die ganze Stadt sei voll von diesen Plakaten. „Jetzt feiern sie sich wie kleine Kinder, diese Deppen.“ Ausgerechnet die. Die ja selbst nicht mal Bahn fahren würden. Sich nur in Dienstwagen chauffieren lassen. Stocker hat seit 25 Jahren schon kein Auto mehr. Und einen Dienstwagen würde er aus Prinzip schon verweigern. Wobei der Praxistest bei einem einfachen Gemeinderatsmitglied nicht droht.

Gangolf Stocker ist ein kleiner Mann von 67 Jahren im braunen Cordhemd, er war 68er, er schloss sich den Kommunisten an, ist im Herzen tiefrot, weiß sind nur seine noch immer dichten Haare und der Lenin-Bart, und vor allem ist er dagegen. Man könnte sagen, der Protest habe es sich in Gangolf Stocker eingerichtet. So wurde er auch Gesicht des Widerstands gegen „Stuttgart 21“, das größte Infrastrukturprojekt der Republik und wohl auch das umstrittenste.

Von Fürsprechern aus Politik und Wirtschaft wurde es von Beginn an ein Jahrhundertprojekt genannt. „Milliardengrab“ nennt es Stocker. Derzeit mehr als vier Milliarden Euro geplanter Baukosten. Man möchte den gewaltigen Stuttgarter Hauptbahnhof unter die Erde bringen. Acht unterirdische Gleise verlegen. Statt der 16, die dort bisher an 16 Prellböcken enden. Reinfahren, rausfahren, Stuttgart ist ein sogenannter Kopfbahnhof. Das fanden die Planer veraltet und zu langsam. Jetzt sollen unten acht Durchgangsgleise sein, die Stuttgart mit dem europäischen Hochgeschwindigkeitsnetz verbinden. Und oben wird der alte Hauptbahnhof, erbaut 1924, Wahrzeichen der Stadt mit seiner Fassade aus Muschelkalk, Makulatur. Die gewaltigen Seitenbauten, Nord- und Südflügel, sollen abgerissen werden, nur noch die Haupthalle stehen bleiben und der Turm, auf dem seit je ein Daimler-Stern kreist.

Im Jahr 1988 entwickelte ein Verkehrswissenschaftler den ersten Entwurf. Am 10. Dezember 2009 wurde der entscheidende Vertrag unterschrieben. Drei Männer schüttelten sich lange die Hände und lachten. Ministerpräsident Günter Oettinger, der dritte schon seit 1988, Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster und Bahn-Chef Rüdiger Grube. Oettinger sprach anschließend in Mikrofone und Kameras von Kraftanstrengungen und Alternativlosigkeiten. „Die wichtigste Botschaft des heutigen Tages ist, dass das Bahnprojekt ,Stuttgart 21’ nun unumkehrbar ist“, sagte er.

Ende Januar gab es noch mal eine Großdemonstration vor dem Nordeingang des Hauptbahnhofes. 7000 Menschen kamen. Stocker sprach und dann auch Grube, „aber der wurde gnadenlos ausgepfiffen“, sagt Stocker und zieht den Mund zu einem halben Lachen. Es wird wohl sein letzter Erfolg gewesen sein.

Heute nämlich beginnen die Bauarbeiten. Endgültig. Im Gleisbereich wird man symbolträchtig einen Prellbock aus der Verankerung reißen. Aus einer Druck- wird eine Tatsache. 22 Jahre liegen dazwischen, 170 Stadtratssitzungen, ein Ausstieg der Bahn aus dem Projekt, ihr Wiedereinstieg, ein Bürgerbegehren. Der Preis des Bauvorhabens hat sich in den Jahren vervierfacht, das Ansehen der Bahn mindestens halbiert, durch Streckenstreichungen auf dem Lande, arrogantes Management, den geplanten Börsengang und in Berlin noch dazu durch ein unglaubliches Chaos bei der Bahn-eigenen S-Bahn.

Stockers Büro ist seit den Gemeinderatswahlen im Juni 2009 im Erdgeschoss des Rathauses, da erkämpfte er mit einem freien Wählerbündnis und einem klaren Nein zu „Stuttgart 21“ drei Sitze. So dass nun die etwas eigentümliche Situation besteht, dass zwei Stockwerke über Stocker mit OB Wolfgang Schuster ein glühender Anhänger des Projektes sitzt, der in „Stuttgart 21“ eine „historische Chance für die Stadt“ sieht.

Ganz anders Stocker. 1994, kurz nachdem die baden-württembergische Landesregierung und die Deutsche Bahn die erste Machbarkeitsstudie öffentlich präsentiert hatten, erstmals unter dem Begriff „Stuttgart 21“, ging er, gerade arbeitslos, in den Widerstand. Er fand ein paar Mitstreiter, investierte, was er hatte, in 300 000 Flugblätter, die verteilten sie in Monaten an fast alle Haushalte Stuttgarts, wollten eigentlich nur Sand ins Getriebe streuen. Weil sie sich anfangs ehrfürchtig zeigten, ob ein solch gigantisches Projekt überhaupt zu verhindern sei. Wo sie zudem eine euphorisierte Phalanx aus Politikern, Unternehmern, Medien gegen sich hatten.

Und sogar Stocker sagt, immer ein wenig nuschelnd, dass niemand mit Verstand etwas dagegen haben könne, wenn die Bahn als Transportmittel aufhole im Vergleich zum Auto. Aber „Stuttgart 21“ sei viel zu groß gedacht. Sie legten Gegengutachten vor, eines nach dem anderen. Ein unterirdischer Bahnhof sei anfällig für Störungen, der alte Bahnhof, unlängst als Unesco-Weltkulturerbe vorgeschlagen, werde entstellt. Dazu die Baustelle selbst. Stuttgart würde über Jahre am Schutt ersticken. 900 000 Tonnen Erdreich müssen aus dem Boden geholt werden, um Platz zu schaffen. Neun Jahre Bauzeit sind vorgesehen. Inmitten einer 600 000-Einwohner-Stadt. „Keine Ahnung“, sagt Stocker, „wieso die nicht kapieren, was das für ein Mist ist.“

Wolfgang Drexler ist Sprecher von „Stuttgart 21“. Ein altgedienter Landespolitiker, 63 Jahre alt, hoch gewachsen, mit randloser Brille, die er während des Redens oft abnimmt und wieder aufsetzt. Für 1000 Euro monatliche Aufwandsentschädigung führt er neben seinem Landtagsmandat eine 15-köpfige Initiative unter dem Namen „Das neue Herz Europas“, die 2009 gegründet wurde, um den Bürgern das Projekt emotional näherzubringen, die ja von Beginn an Skepsis hegten, die nicht kleiner wurde im Laufe der Zeit. Die letzte Umfrage vor einem Jahr ergab, dass zwei Drittel der Stuttgarter das Projekt noch immer ablehnen. „Es war ein Fehler,“ sagt Drexler, „dass wir die Bevölkerung zu wenig mit einbezogen haben.“ Weil deshalb Panikmacher wie Stocker, dem er in unzähligen Podiumsdiskussionen die Sinnlosigkeit seiner Einwände verständlich machen wollte, die Oberhand gewonnen hätten. „Die den Leuten sogar jetzt noch weismachen wollen, dass man noch aussteigen könnte aus ,Stuttgart 21’.“ Unfug sei das. Allein für die Rückabwicklung bestehender Verträge wären etwa 870 Millionen Euro fällig. Und warum auch?, fragt Drexler.

Das Gewürm aus Gleisen, das bislang auf den Hauptbahnhof zuführt, wird es künftig nicht mehr geben. 100 Hektar Fläche inmitten des Zentrums werden frei dadurch. In einer Stadt, in der durch ihre von Hügeln rundum eingekesselte Lage freies Bauland ein seltenes Gut ist. Die Stadt kaufte der Bahn schon vor Jahren den Grund ab, um spätere Spekulationen damit zu verhindern. Statt Gleisbrache künftig ein ganz neuer Stadtteil. Ein großer Park soll darin entstehen, größer als der Teil des alten Rosensteinparks, der dem neuen Bahnhof zum Opfer fallen wird. Wohnungen, Bürotürme, die neue futuristische „Bibliothek 21“. „Wann bekommt eine europäische Großstadt einmal solch eine Chance“, ruft Drexler.

Außerdem sei „Stuttgart 21“ ein zutiefst ökologisches Projekt. Der Anschluss an das Hochgeschwindigkeitsnetz in Europa, an die West-Ost-Magistrale Paris – Budapest, könnte nicht nur eine Alternative sein zum Auto, sondern vor allem auch zum Flugzeug. Zumindest für die Kurzstreckenflüge vom nahen Flughafen Stuttgart. Sagt Drexler, der weiß, dass im Projekt auch ein zehn Kilometer langer Tunnel inbegriffen ist, der von der Stadt hinauf auf die Fildern führen soll, eine Anhöhe, auf der Stuttgarts Flughafen liegt. Um so die Fahrzeit für die zwölf Kilometer von momentan fast einer halben Stunde auf acht Minuten zu verkürzen.

Drexler nimmt wieder seine Brille ab. Reibt sich die Augen. Die vergangenen Wochen waren erschöpfend. Auch für ihn. Nun hoffe er, dass es damit bald zu Ende ist. Dass die anderen, eben vor allem auch Gangolf Stocker, akzeptieren, dass es jetzt nichts mehr zu verhindern gibt. Dass man vor allem den Menschen die Vorzüge klar genug gemacht hätte. Und wahrscheinlich ist er auch ein wenig froh, dass dieses Prestigeobjekt nicht doch noch behindert wurde. Weil ohne dessen Gelingen auch die Karriere vieler Beteiligter ins Stocken geraten wäre.

Gangolf Stocker sitzt zwei Kilometer von Drexler entfernt in Raum 015 des Rathauses, fährt sich durchs Haar und sagt: „Wir sind noch nicht auf dem Abstellgleis.“ Dann sagt er noch: „Das ist ’ne schöne Mafia.“ Hätte der Heimerl das mal nie erdacht.

Gerhard Heimerl. Mit ihm fing es an. Heimerl ist heute ein stilvoll gealterter Herr von 76 Jahren, der zusammen mit seiner Frau in einem Reihenhaus im ruhigen Stuttgarter Vorort Sillenbuch wohnt. Und sich darüber freut, sachlich und nur ein ganz bisschen emotional, wie es die Art ist von Wissenschaftlern, dass nun doch noch Wirklichkeit wird, was er einst erdachte, 1988. In einer anderen Zeit schon fast. Als die Mauer noch stand, Helmut Kohl noch nicht ewiger Kanzler war und Matthias Wissmann Verkehrsminister in seinem Kabinett. Als es noch gemächlicher zuging in Deutschland. Auch auf den Schienen. Wo die bekannte, gelb-rote E103 als schnellste Lok die Intercityzüge zog. Mit 180 Stundenkilometern maximal.

Heimerl war damals Ordinarius für Eisenbahn und Verkehrswesen am Verkehrswissenschaftlichen Institut in Stuttgart. Eine geachtete Koryphäe auf seinem Gebiet, Mitglied auch im Beirat des Bundesverkehrsministeriums, das gerade eine Großbestellung platziert hatte: über 41 der neuen Hochgeschwindigkeitszüge ICE. Die sollten zusammen mit dem Bau von tauglichen Neubaustrecken ein neues Zeitalter einläuten. Zwischen Mannheim und Stuttgart war so eine gerade im Bau. Nur hinter Stuttgart ging es nicht weiter. Richtung München zuckelten die Züge durch das schmale Neckartal, um erst bei Augsburg wieder auf die schnelle Neubaustrecke zu stoßen.

Heimerl, aus dem Fränkischen stammend, aber Stuttgart damals schon heimatlich verbunden, wollte etwas Besseres für die Stadt. Angestachelt von großem Ehrgeiz und unterstützt von seinem Talent, erarbeitete er in Monaten ein Konzept, das Nadelöhr zu beseitigen. Am Ende sah der Entwurf die Verlegung der Gleise in den Untergrund vor, einen Tunnel hinauf auf die Fildern und ab dem Flughafen eine neue Trasse kerzengerade entlang der Autobahn 8. In den Untergrund, weil: „Quer durch eine Großstadt konnte man ja schlecht eine Schienenschneise legen.“

Wenn es heute losgeht, 13 Uhr, mit Ansprachen vom Verkehrsminister des Bundes, Peter Ramsauer, und Bahn-Chef Wolfgang Grube, wird Stocker draußen vorm Nordeingang eine Demonstration anführen. Drexler wird drinnen mit in die Kameras lächeln. Und Heimerl, der vor zwei Jahren einen Schlaganfall hatte und seitdem „ein bisschen gehbehindert ist“, wird trotzdem „runtergehen in die Stadt“. Weil er das miterleben möchte.  

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