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Gläubige und Ungläubige sind Weihnachten zum Nachdenken über das eigene Leben aufgefordert.

© Illustration: Martha von Maydell

Das zweite Corona-Weihnachten: Stiller Ernst gehört seit jeher zur Freude am Heiligabend

Die religiöse Aufladung von Gesundheits-Debatten ist misslich. Aber Lukasevangelium und Dickens „Weihnachtsgeschichte“ fordern schon Besinnung. Ein Gastbeitrag.

Der Autor ist Theologe und seit Februar 2016 Kulturbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Das Weihnachtsfest im vergangenen Jahr war schrecklich, ein einziger Kladderadatsch. In diesem Jahr soll es ebenfalls furchtbar werden. So war es im Advent häufig zu hören. Ein apokalyptischer Ton mischte sich in viele Äußerungen, die auf Heiligabend vorausblickten.

Wenn wir im Advent nicht das Rechte täten, würden wir ein „schlimmes Weihnachten“ erleben. Der „traurige Höhepunkt“ der vierten Welle wurde für den 24. Dezember vorhergesagt. Dem Nachrichten konsumierenden Theologen fielen da die biblischen Lesungen wieder ein, die traditionellerweise in Adventsgottesdiensten gelesen wurden: Verse über den Weltuntergang und die Reiter des Unheils, über den Jüngsten Tag, an dem Gericht gehalten wird, alle Menschen Rechenschaft ablegen müssen und schließlich die Gerechten von den Ungerechten geschieden werden.

Für rhetorische Zuspitzungen gab und gibt es nachvollziehbare Gründe. Die Bevölkerung sollte aufgerüttelt, zum Impfen motiviert und auf Einschränkungen eingestimmt werden. Es war und ist vernünftig, sich zu fürchten und andere das Fürchten zu lehren. Doch als Theologe fühlte man sich bei religionsähnlichen Aufladungen öffentlicher Debatten immer unwohl. Sie führen selten zu Einsicht und Verständigung. Noch problematischer wird es, wenn gesundheitspolitische Fragen wie in England auf die populistische Spule gezogen werden, wo rechte Politiker und Publizisten krakeelten, die medizinischen Experten wollten das geliebte Christmas „canceln".

Kirchenvertreter gehören zu den leisen Stimmen in den erregten Weihnachtsdebatten

Als Theologe möchte man das Christfest grundsätzlich davor bewahren, als Propagandainstrument und Moralverstärker eingesetzt zu werden. Es geht doch darum, sich im Advent innerlich vorzubereiten, auf Wesentliches zu besinnen und Unwesentliches zu lassen, um dann mit den wichtigsten Mitmenschen ein Fest zu feiern, auf dem ein stiller Segen liegen kann. Deshalb gehörten kirchliche Repräsentanten bislang zu den eher leisen Stimmen in den sonst hocherregten Debatten. Wenn sie für Impfung und Kontakteinschränkung warben, kamen sie ohne weihnachtliche Bezüge und endzeitliche Anspielungen aus. Sie bemühten sich, wie es sich gehört, um Besonnenheit.

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Wahrscheinlich wurden sie deshalb von vielen nicht gehört. Es ist jedoch leider so, dass sich die Sphären des Geistlichen und Weltlichen, des Glaubens und der Gesundheitspolitik nicht so säuberlich unterscheiden lassen – gerade zu Weihnachten nicht. Denn genau darin liegt die Funktion dieses letzten gesamtgesellschaftlichen Rituals in Deutschland: An Heiligabend stellen sich alle drängenden Lebensfragen so, dass man ihnen nicht mehr ausweichen kann, wie man es sonst zu tun pflegt. Jetzt wird jedem einzelnen und der Gesellschaft insgesamt der Spiegel so vorgehalten, dass man hineinschauen muss.

Nun zeigt sich, wie es um uns wirklich steht. Denn Weihnachten ist unausweichlich, für Gläubige, Anders- und Nicht-Gläubige gleichermaßen. Man mag dies bedauern oder lästig finden, doch liegt ein guter Sinn darin, dass am Ende eines Jahres alle rituell genötigt sind, über sich und einander nachzudenken – selbst, wenn dies, wie jetzt am Ende eines zweiten Corona-Jahres, nicht nur gute Gedanken hervorbringt und man meint, dass über jeden ein hartes Urteil gesprochen wird.

Schon das "Gründungsmanifest" von Weihnachten gibt eine endzeitliche Einfärbung vor

Doch tritt man einen Schritt zurück und betrachtet die lange Geschichte des Christfestes, kann einem aufgehen, dass seine endzeitliche Einfärbung keineswegs eine Erfindung unserer coronainfizierten Gegenwart ist. Am besten geht man an den Anfang des Weihnachtens zurück, wie wir es heute kennen, also ins 19. Jahrhundert, und nimmt sich sein "Gründungsmanifest" vor.

Das ist nicht das zweite Kapitel des Lukasevangeliums, jedenfalls nicht nur. Denn das bürgerlich-moderne Weihnachten basiert mindestens ebenso auf „A Christmas Carol in Prose“, also „Ein Weihnachtslied in Prosa“, von Charles Dickens, veröffentlicht 1843. Es ist ein Klassiker, ein Buch, das alle kennen, auch wenn nur wenige es wirklich gelesen haben.

Aber das ist gar nicht nötig, weil es durch unzählige Adaptionen für Theater, Kino, Fernsehen oder Bilderbücher allgegenwärtig ist. Doch gerade jetzt lohnt sich ein frischer Blick in das unverwüstliche Buch. Denn wer genauer hineinschaut, erkennt, dass es keineswegs eine harmlose, besinnlich-behagliche Erbauungsgeschichte erzählt. Dickens sah in diesem Buch einen „Holzhammer“, mit dem er für Solidarität, die Rechte der Armen, besonders der elenden Kinder kämpfen wollte. Mehr noch, auf seine Weise machte auch er Weihnachten zu einem Tag des Gerichts.

Dazu griff er jedoch nicht auf apokalyptische Motive zurück, also: endzeitliche Posaunen, Sturz der weltlichen Mächte, Vernichtung des Drachens durch Engel, Christus auf dem Richterstuhl, Aufstieg der Erlösten in den Himmel und Sturz der Verdammten in die Hölle. Stattdessen bediente Dickens sich im Fundus des damals beliebten gothic novel, also des Schauerromans, um zu erzählen, wie Heiligabend selbst für den hartnäckigsten Weihnachtsignoranten zu einer Zeit ultimativer Abrechnung werden kann.

Wie so häufig bei Dickens erinnert man sich auch bei seiner Weihnachtsgeschichte weniger an die Details der Handlung als an die Hauptfiguren – hier Ebenezer Scrooge. Wer war das noch einmal genau? Natürlich ein hinreißender Fiesling – geizig, gierig und gemein –, aber nicht nur dies.

Radierung von John Leech (1817- 1864) zur Illustration von Charles Dickens " Ein Weihnachtslied in Prosa".

© PICTURE-ALLIANCE / AKG-IMAGES

Dickens stellt Scrooge nicht nur als außergewöhnlich verdorbenes Individuum vor, sondern als Vertreter einer mächtigen Ideologie und Herrschaftsordnung: der Weltanschauung eines radikalen Empirismus und eines ungehemmten Kapitalismus. Für ihn haben nur Fakten und Zahlen einen Wert. Alles muss sich als Geldwert beziffern lassen.

Dass etwas an und für sich kostbar ist, auch wenn man es nicht kaufen oder verkaufen kann, erscheint ihm als undenkbar. Deshalb kennt er kein Mitgefühl für Menschen ohne Geld. Damit repräsentiert Scrooge eine wirtschafts- und sozialpolitische Mentalität, die der Motor eines ökonomischen Fortschritts ist, der einige sehr reich macht, viele andere aber ins Elend stößt.

Anhänger eines ungehemmten Kapitalismus stellt Dickens als einsam dar

Doch Dickens ist zu klug, um seinem Publikum Scrooge bloß als Feindbild vorzustellen und billiger Verachtung preiszugeben. Denn zum einen zeigt er, wie dessen Ideologie etwas Tragisches an sich hat, weil sie denjenigen, der ihr anhängt und von ihr profitiert, in eine heillose Einsamkeit führt. Zum anderen kann man sich als Leser – ein gewisses Maß an Ehrlichkeit vorausgesetzt – in Scrooge wiedererkennen. Die innere Nähe von Dickens zu seinem berühmtesten Scheusal jedenfalls ist unübersehbar.

Als Kind hatte er bitterste Armut erlebt. Um nur ja nie wieder in Not zu geraten, achtete er darauf, mit seinen Büchern richtig gutes Geld zu verdienen. Besonders an sein „Weihnachtslied“ knüpfte er hohe pekuniäre Erwartungen, zum Glück nicht vergeblich. So dürfte Dickens dieser Antiheld auch deshalb so gut gelungen sein, weil er selbst ein Stück von ihm in sich trug. Scrooge – das sind wir alle eben auch selbst.

Zu Weihnachten wird Scrooge nun zu einer radikalen Lebensbilanz gezwungen, zuerst von einem Gespenst: Sein verstorbener und zu Lebzeiten ebenso geldgieriger Geschäftspartner erschreckt ihn des Nachts. Anschließend erscheinen ihm drei Zaubergestalten: der Geist der vergangenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Weihnachten. Sie werden ihn lehren, worauf es im Leben wirklich ankommt. Was in der deutschen Übersetzung vornehm „Geist“ genannt wird, ist im englischen Original nicht „mind“, das intellektuelle Vermögen, sondern entweder „spirit“, ein inneres, ethisches Prinzip, oder schlicht „ghost“: Gespenst.

Die erste weihnachtliche Spukgestalt bringt Scrooge zurück in seine Vergangenheit als einsames Kind und als junger Mann, der seine Liebe verrät. Der zweite Geist führt ihn durch das festfrohe London und zeigt ihm all die unschuldigen, sinnlichen Freuden, die Weihnachten bereithält. Auch lehrt er ihn, was Herzlichkeit ist. Er lässt ihn miterleben, wie sein Buchhalter trotz bitterer Armut mit der Familie fröhlich feiert. Der dritte Geist schließlich zeigt ihm die Zukunft, die ihm droht: ungeliebt beerdigt zu werden. Da ruft Scrooge aus: „Ich will nicht der Mensch sein, der ich geworden wäre, ohne euer Dazwischentreten.“ Er wacht auf. Es ist Weihnachten. Er fühlt sich wie ein neugeborenes Kind, steht auf, läuft hinaus und lacht – das erste Mal seit langer Zeit. Auf der Straße begegnet er Spendensammlern und sagt ihnen eine große Summe für die Armen zu.

Mit einem riesigen Truthahn beladen geht er zur Familie seines Buchhalters und verspricht, sich um dessen sterbenskranken Sohn, Tiny Tim, zu kümmern. Das ist ein herzerwärmendes happy ending und viel mehr als das, nämlich eine Verwandlung, in der aus einer Geldzählmaschine auf zwei Beinen wieder ein Nächster und ein Reicher von seiner Einsamkeit erlöst wird. Das urchristliche Motiv der Inkarnation Gottes wird hier auf das Anrührendste verweltlicht zur Menschwerdung eines Menschen.

Hinter der weihnachtlichen Fassade lauert die Unausweichlichkeit

Gericht wurde gehalten, aber weniger über einen einzelnen Weihnachtsfeind als über die Ideologie, die ihn in die Entfremdung geführt hatte. Darin liegt eine Gnade, denn der Verdammte erhält die Chance zur Einsicht, zu einem neuen Anfang, ja einer regelrechten Wiedergeburt. Man könnte lange darüber diskutieren, was daran noch christlich oder nur säkular ist. Besser ist es, auf Tiny Tim zu hören, der den Schlussakkord in diesem Weihnachtslied setzt, indem er ausruft: „Gott segne alle und jeden von uns!“

Dickens hat eine Spur gelegt, die sich untergründig durch jedes moderne Weihnachtsfest zieht, bis heute. Denn unter der Oberfläche des Bürgerlichen, Wohlhabenden, Anständigen und Selbstzufriedenen fließt ein kühler Strom. Er speist sich aus der Unausweichlichkeit von Weihnachten.

Wer am Ende des Jahres ein symbolisch und emotional bedeutsames Fest feiert, mit Silvester in Sicht und dem Totensonntag im Rücken, dem stellen sich unwillkürlich existenzielle Fragen. Der Geist von Weihnachten fragt – beziehungsweise man fragt sich selbst: Was läuft falsch bei uns? Und was ist für mich wirklich wertvoll? Worin liegt der Sinn meines Lebens? Und wie wollen wir zusammenleben? Welchem Geist sollen wir folgen?

In diesem Jahr nehmen solche Fragen einen besonders bitteren Unterton an. Doch das sollte nicht in apokalyptische Ängste führen, sondern zu mehr Ernst in der Freude. Heiligabend ist eine Stunde der Wahrheit, aber nicht der Tag der Abrechnung. Deshalb sollten wir zu Weihnachten nicht Weltuntergangspropheten das letzte Wort lassen, sondern lieber Dickens’ Tiny Tim.

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