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Mitgliederbefragung bei den Sozialdemokraten: SPD schafft Zweiklassenwahlrecht

Mit ihrem Festhalten an der Mitgliederbefragung lähmt die SPD den Prozess der Regierungsbildung. Statt Parteien sollten deshalb Fraktionen über Koalitionen verhandeln. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Til Knipper

Was macht SPD-Chef Martin Schulz eigentlich, wenn er morgens nicht weiß, welche Krawatte er anziehen soll? Ruft er dann seinen neuen Generalsekretär Lars Klingbeil an, damit dieser sofort einen Sonderparteitag einberufen oder eine Mitgliederbefragung anleiern kann, um die Krawattenfrage schnellstmöglich zu klären? Oder reicht dazu ein einfacher Beschluss des SPD-Vorstands?

Zugegeben, das Beispiel ist etwas albern, aber man könnte argumentieren, dass Schulz als Parteivorsitzender die SPD nach außen repräsentiert. Da ist es doch im Interesse aller Parteimitglieder, dass er anständig angezogen ist. Überhaupt stärkt ein solches Vorgehen nicht auch die innerparteiliche Demokratie? Nach dem Motto: In der SPD kann jedes Parteimitglied mitgestalten, die Verantwortung liegt nicht allein auf den Schultern des Vorsitzenden.

Genauso argumentieren die Sozialdemokraten nämlich, wenn es um die erneute Bildung einer großen Koalition mit der Union geht. Die Sondierungsgespräche, die anschließenden Koalitionsverhandlungen und das Unterschreiben eines ausverhandelten Koalitionsvertrages, jeden einzelnen Schritt lässt sich die Parteispitze um Martin Schulz von Sonderparteitagen oder durch eine Befragung der Mitglieder genehmigen.

Es ist schlimm genug, dass der lähmend langsame Verlauf der Regierungsbildung in Deutschland dadurch noch weiter in die Länge gezogen wird. Noch nie hat es so lange gedauert, bis nach einer Bundestagswahl das neue Kabinett ins Amt kam, der bisherige Rekord von 86 Tagen aus dem Jahr 2013 wurde am Mittwoch gebrochen.

Die Mitgliederbefragung ist verfassungsrechtlich bedenklich

Aber auch wenn die SPD dafür wahrlich nicht die alleinige Verantwortung trägt, ist gerade die von ihr gewählte Mitgliederbefragung darüber hinaus politisch und verfassungsrechtlich fragwürdig: Ist es wirklich demokratisches Verantwortungsgefühl, was die SPD zu ihrem Vorgehen getrieben hat? Wohl kaum. Es ist der durchsichtige Versuch, nach einem für die Partei desaströsen Wahlergebnis die eigene Verhandlungsposition zu verbessern. Für Schulz verhandelt es sich leichter, wenn das letzte Wort bei den Verhandlungen nicht er selbst hat, sondern 440 000 kleine „Parteivorsitzende“. Mit deren Unberechenbarkeit will die SPD in den Gesprächen wuchern, um möglichst viele Forderungen durchzusetzen. Da ist für sich genommen ein legitimes Ziel, stellt aber das Wahlergebnis auf den Kopf.

Die Taktik der SPD hat auch unmittelbare Auswirkungen auf das Format der Verhandlungen. Wer am Ende die eigenen Mitglieder überzeugen will, ist fast gezwungen, eine riesige Verhandlungsdelegation zusammenzustellen, die die Vertreter aller Strömungen der Partei abdeckt. Das führt zu eben so viel Personal auf Unionsseite, obwohl spätestens seit der gescheiterten Jamaika-Sondierung klar sein sollte, dass zu viele Diskutanten das Gespräch verderben.

Die Mitgliederbefragung ist zudem verfassungsrechtlich bedenklich. Zwar hat die SPD ein solches Verfahren schon vor vier Jahren durchgeführt, und einen Eilantrag dagegen hat das Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen. Das Gericht hat sich aber mangels Zulässigkeit des Antrags nicht ausführlich mit der inhaltlichen Frage beschäftigt. Problematisch ist schon, dass die SPD-Bundestagsabgeordneten das Votum der Mitglieder als faktisch bindend empfinden dürften. Das stärkt vielleicht die innerparteiliche Demokratie in der SPD, es schwächt aber nicht unerheblich die im Grundgesetz verankerten Prinzipien des freien Mandats und der repräsentativen Demokratie. Die Staatsgewalt geht in Deutschland vom Volke aus, nicht von den SPD-Mitgliedern.

Ein Signal gegen die Entparlamentarisierung der Entscheidungsprozesse

Noch schlimmer wird es, wenn das Beispiel der SPD Schule macht. Das wäre de facto die Einführung eines neuen Zweiklassenwahlrechts. Die Mehrheit wählt die Abgeordneten, eine Kleinstminderheit von Parteimitgliedern bestimmt die Inhalte. Und was passiert eigentlich, wenn der Koalitionsvertrag in der Legislaturperiode missachtet, ergänzt oder gar gebrochen wird? Wird dann wieder abgestimmt?

Dabei gäbe es für all diese Fragen eine einfache Lösung, die auch verfassungsrechtlich sauber wäre: Die Koalitionsverhandlungen sollten nicht nicht die Parteien führen, sondern die Abgeordneten und Fraktionen im Bundestag selbst. Sie sind es, die gewählt sind, den Wählerwillen zu repräsentieren, und sie sind es auch, die in der Koalition am Ende zusammenarbeiten müssen. Und es wäre endlich ein entschiedenes Signal, der schleichenden Entparlamentarisierung der Entscheidungsprozesse Einhalt zu gebieten.

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