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Inge Auerbacher vor dem Deutschen Bundestag

© Michele Tantussi/Reuters

Shoah-Überlebende Inge Auerbacher: „Ich war niemand, ein Stück Dreck“

Inge Auerbacher sprach zum diesjährigen Holocaust-Gedenken im Bundestag. Im Tagesspiegel erzählt sie von sich – und jüdischer Vergangenheit in Baden.

Das Einfamilienhaus in der Poststraße 20 im badischen Kippenheim ist nur wenige Schritte entfernt von der ehemaligen Synagoge und dem koscheren Gasthaus „Badischer Hof“, dem geselligen Treffpunkt der Juden im Dorf. Für Inge Auerbacher war dieses Dreieck damals die ganze Welt. Sie erzählt, dass sie im orthodoxen Gottesdienst bei den Frauen auf der Empore sitzen sollte.

„Aber ich ging immer herunter zu den Männern“. Dies hat man ihr gern verziehen: Denn sie war das jüngste in Kippenheim geborene jüdische Kind. Sie sollte das letzte sein, das hier geboren wurde.

Gedichte und ein Buch: Ich bin ein Stern

Diese heile Welt der knapp Vierjährigen ging im November 1938 unter. „Opa ging zum Morgengottesdienst in die Synagoge, wo er verhaftet wurde. Meinen Vater, der im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden war und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde, verhafteten sie zu Hause“.

Junge Deutsche schlugen alle Fenster des Hauses ein, wo Inge, ihre Mutter und Großmutter sich versteckten. „Einem Stein konnte ich entkommen, weil mich meine Mutter noch wegziehen konnte. Viele Stunden standen wir im Hinterhof im Dunkeln, bis der Radau aus war“. Kurz nach der Freilassung der Männer verließ die Familie Kippenheim, wo die Auerbachers über 200 Jahre beheimatet waren, und zog zu den Großeltern.

Jeden Morgen musste die kleine Inge drei Kilometer zu Fuß nach Göppingen laufen und dann eine Stunde mit der Bahn nach Stuttgart fahren - zur einzigen jüdischen Schule in der Gegend. Juden war der Besuch deutscher Schulen verboten. „Papa sagte mir, ich solle mich im Zug so hinsetzen, dass ich wie zufällig den gelben Stern verdeckte, obwohl es streng verboten war“, schreibt sie in ihrem Buch "Ich bin ein Stern". Dem „Zeichen der Schande“ widmete sie ein Gedicht:

„Sterne am Himmel, ein Stern auf der Brust,

Mama, ich weiß, ich hab’s längst gewusst,

Kein Zeichen der Schande ist er, mein Stern,

Ich trage ihn mit Stolz, ich trage ihn gern“.

Gelber Stern für Impfgegner? "Absoluter Quatsch"

Diesen Stern mussten Inge und ihre Eltern knapp drei Jahre lang im KZ Theresienstadt tragen, wo 35.000 Juden an Krankheiten und Hunger starben. Die Befreiung 1945 feierten sie mit dem Abriss des gelben Sterns von ihrer Kleidung. Seit 1946 lebten sie in New York.

Im Gespräch wirkt die pensionierte Chemikerin sehr freundlich und hellwach. Die Erinnerungen sprudeln aus ihr heraus, und sie kann sich an Details noch gut erinnern. Die 87-Jährige regt sich nur dann auf, wenn sie über Impfgegner spricht, die einen gelben Judenstern mit der Aufschrift „Ungeimpft“ an ihre Kleidung heften. „Für mich ist es Quatsch, absoluter Quatsch! Man kann die zwei Sachen absolut nicht vergleichen! Wir sind zum Tode verurteilt worden, diese Leute nicht“.

Inge Auerbach mit ihrer Puppe Marlene. Sie rettete sie auch durch die Zeit in Theresienstadt und vermachte sie später dem Holocaust-Museum in Washington.

© Verlag Beltz & Gelberg

Die schlimmen Erinnerungen an die Shoah kommen bei Auerbacher nur dann hoch, wenn sie Zuggeräusche hört, Hunger hat oder man sie danach fragt, erzählt sie. In den 1980er Jahren begann sie, ihre traumatischen Erlebnisse durch Gedichte zu verarbeiten. Seit 1998 wird sie zu Vorträgen nach Deutschland eingeladen.

Die Kränkung, ausgestoßen zu sein

In einer Grundschule in Kenzingen bei Kippenheim feiern die Dritt- und Viertklässler am 8. Mai ihren Befreiungstag, erzählt sie sehr gerührt: „Sie haben den Hora für mich getanzt. Sie gingen mir richtig ans Herz, diese deutschen Kinder!

Ihre Rede im Bundestag richtet sie vor allem an sie.

„Meine Rede ist: Wie wir gute Deutsche waren. Wir waren nicht die Ausländer. Wir waren über 1000 Jahre in Deutschland und haben mitgemacht und unser Leben gegeben für Deutschland“, sagt sie.

Auch die vielen positiven Erfahrungen in Deutschland können ihre Kränkung nicht heilen, aus der Heimat ausgestoßen zu werden. Daher lehnt sie strikt die deutsche Staatsangehörigkeit ab: „Ich brauche nur eine und die habe ich“, sagt sie. „Sie haben mich staatenlos gemacht: Ich war niemand, ein Stück Dreck. Und die Amerikaner haben mir eine Heimat geschenkt. Und wenn es gefährlich wird, dann gehe ich nach Israel“.

Anfang Februar wird Auerbacher Kippenheim besuchen. In der renovierten Synagoge, einer Begegnungsstätte, wird sie mit dem Eigentümer ihres Familienhauses plaudern, mit dem sie gut befreundet ist. In badischem Dialekt.

Igal Avidan

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