zum Hauptinhalt
Wesley Clark hat als Nato-Oberbefehlshaber den Machtkampf auf dem Balkan mitentschieden.

© AFP

Serie „Was ist Macht?“: Vor dem Erfolg in Bosnien war die Schande von Ruanda

Das US-Militär hätte den Genozid in Ruanda stoppen müssen. In Bosnien dagegen verteidigten die USA ihre „wahre Quelle ihrer Macht“. Ein Gastbeitrag.

Wesley Clark ist ehemaliger Oberkommandierender des strategischen Nato-Kommandos Europa, Senior Fellow am Burkle Center-International Relations der Universität von Los Angeles und Geschäftsführer von Renew America Together, einer Nonprofitorganisation.

Dies ist Teil 1 unserer Sommerserie zu der Frage „Was ist Macht?“, in der wir Texte der „The New York Times“-Reihe „The Big Ideas“ veröffentlichen. In den kommenden Folgen geht es unter anderem um die Macht der Sprache, um die Macht der Geschlechter oder um die Macht von Fantasie und Glauben.

Im Laufe der Jahre haben Tausende von Kadetten an der Militärakademie der Vereinigten Staaten das Kadettengebet von West Point auswendig gelernt und vorgetragen, auch ich selbst. Im Gebet heißt es: „Lass uns das härtere Recht anstatt das einfachere Unrecht wählen, und niemals mit einer Halbwahrheit zufrieden sein, wenn die ganze Wahrheit erkannt werden kann. Gib uns den Mut, der aus der Treue zu allem, was edel und würdig ist, geboren wird, der es verachtet, mit dem Laster und der Ungerechtigkeit Kompromisse einzugehen, und keine Angst kennt, wenn Wahrheit und Recht in Gefahr sind.“

Das Gebet beschreibt den Wert des guten Handelns, und wieso moralische Autorität an sich die tiefste Quelle der Macht ist. Den Kadetten wird beigebracht, dass die eigenen Werte beim Streben nach Macht ausschlaggebend sein sollten und die einzige Rechtfertigung für den Gebrauch dieser sind. Dies ist die Essenz des Mutes, den das Gebet beschreibt und den jeder Anführer und jede Anführerin verinnerlichen sollte.

Die USA riefen die UN zum Handeln auf. Das war es

Aber die USA und ihre Anführer haben diesen Mut nicht immer gezeigt. Zwei einschneidende Ereignisse in meiner Karriere haben verdeutlicht, wann wir für das Gute und unsere Werte gekämpft haben, und wann nicht.
Am 6. April 1994 wurde ein Flugzeug über Kigali, der Hauptstadt Ruandas abgeschossen. An Bord waren der ruandische Präsident Juvénal Habyarimana und der Präsident von Burundi, Cyprien Ntaryamira, beides Vertreter der Hutu-Bevölkerung. Ihre Ermordung löste einen Bürgerkrieg und Genozid aus, dessen Brutalität die Welt schockierte.

Die amerikanische Regierung äußerte bereits am Anfang der Krise ihre Besorgtheit und rief die Hutu-Machthaber dazu auf, den drohenden Genozid zu verhindern. Die USA forderten die Vereinten Nationen auf, die in Ruanda stationierte Friedensmission zu verstärken, um das Gemetzel zu beenden, aber dabei blieb es.

Mein militärischer Plan stieß auf taube Ohren

Damals arbeitete ich als Direktor für strategische Planung und Richtlinien des Vereinigten Generalstabs. Auf Wunsch der damaligen amerikanischen UN-Botschafterin Madeleine Albright legten ich und mein Team einen militärischen Plan vor, um den Krieg in Ruanda zu stoppen, doch dieser stieß auf taube Ohren.

Es hieß dann meist, der Kongress würde niemals 20.000 Soldaten und zwei Milliarden US-Dollar für eine Mission im Herzen Afrikas genehmigen. In den Folgemonaten verfolgten und diskutierten mein Team und ich die Berichte über die Gräueltaten mit zunehmendem Entsetzen. Den USA gelang es trotz ihrer globalen Macht nicht, am Anfang der Krise entscheidend zu handeln und den Konflikt zu unterbinden. Am Ende verloren 800.000 Männer, Frauen und Kinder in Ruanda auf grausame Art und Weise ihr Leben.

Das Versagen widersprach unseren Werten

Amerikas Versagen war zutiefst beunruhigend. Der Kalte Krieg war 1994 längst vorbei und die Sowjetunion Geschichte. In Panama war die Demokratie wieder eingeführt worden, Saddam Hussein wurde aus Kuwait vertrieben, und die USA avancierten unter dem jungen und neuen Präsidenten Bill Clinton zur alleinigen Supermacht.

Aber den Krieg in Ruanda konnten wir nicht verhindern? Nicht einmal mit Hilfe der Vereinten Nationen? Nicht einmal mit all unserer militärischen Macht? Was den Genozid in Ruanda angeht, waren wir weder schlau noch mitfühlend. Wir handelten entgegen unserer eigenen Werte. Aber viele von uns schworen damals, diesen Fehler nie wieder zu wiederholen.

Im Folgejahr, mitten im Bosnienkrieg, griffen bosnisch-serbische Soldaten die Stadt Srebrenica an, die laut UN als „sichere Zone“ galt, und richteten 8000 muslimische Männer und Jungen hin. Die USA forderten die Nato auf, zu reagieren und verstärkten ihre diplomatischen Bemühungen unter der Leitung des stellvertretenden Assistant Secretary of State Richard Holbrooke (der US-Sondergesandte für den Balkan, Anm. d. Red.), um den Konflikt zu beenden. Kurz darauf griffen serbische Soldaten erneut bosnische Zivilisten an, diesmal mit einem Mörserangriff auf einen belebten Marktplatz. Diesmal reagierte das transatlantische Bündnis mit Luftangriffen.

In Bosnien lief es anders

Drei Jahre Krieg im ehemaligen Jugoslawien hinterließen mehr als 100.000 Tote, machten zwei Millionen weitere Menschen zu Flüchtlingen, und gefährdeten nach dem Ende des Kalten Krieges den Frieden und die Stabilität der ganzen Welt. Präsident Clintons Entschlossenheit, den Krieg mithilfe von Luftschlägen und geschickter Diplomatie zu beenden, führten 1995 zum Friedensabkommen von Dayton und dem Ende der Kampfhandlungen. Unser Durchsetzungswille wurde getestet, und die amerikanische Führung beendete den Kampf.

„Wenn man etwas tun kann, sollte man das auch“, pflegte Clinton zu sagen. Und wir haben etwas getan. Aber unter dem Erfolg von Dayton lag die Schande von Ruanda. Ich habe die Ruinen im zerbombten Mostar gesehen und gehört, wie bosnische Anführer die Folterungen und Vergewaltigungen beschrieben, die ihre Leute ertragen mussten. Wir wussten damals, was die Konsequenzen sein würden, wenn wir nicht handeln.

Drei Jahre später begannen die Serben die nächsten ethischen Säuberungen, diesmal im Kosovo, in dem die übergroße Mehrheit der Bevölkerung albanischer Abstammung ist. Die Albaner wehrten sich und schlugen zurück, und wieder wurde die Nato um Intervention gebeten. Der serbische Diktator Slobodan Milosevic zeigte sich unbeeindruckt und setzte trotz angedrohter Luftschläge seine Gräueltaten fort. Als oberster alliierter Nato-Kommandant in Europa war ich damals für die Operation verantwortlich.

Am Ende der Diplomatie kam der Luftschlag

Ende März 1999 war klar, dass Holbrooks diplomatische Vermittlungsversuche ergebnislos bleiben würden. Und US-Präsident Clinton ordnete, auf Anraten von vielen Beratern und natürlich auf Basis seiner eigenen Abwägungen, den ersten Luftschlag am 24. März an.

In Washington verstanden nicht alle die Notwendigkeit des Kosovo-Einsatzes. Der Balkan war weit weg, und viele Politiker und Experten fragten sich, warum Amerika sich hier engagieren sollte. Andere betrachteten das Dayton-Abkommen nicht als amerikanischen, sondern als parteipolitischen Erfolg und wollten am liebsten gar nichts mit dem Balkan zu tun haben.

Aber die Entschlossenheit unserer Nato-Koalition und der Regierung hielt an. Nach elf Wochen intensiver Angriffe und der Erwägung eines Truppeneinsatzes - zusammen mit einer internationalen diplomatischen Offensive, die von den Vereinigten Staaten organisiert und von Finnland und Russland angeführt wurde - schied Präsident Milosevic aus seinem Amt aus. Serbische Truppen zogen sich aus dem Kosovo zurück, und unter der Aufsicht einer Nato-Friedenstruppe kehrten 1,4 Millionen vertriebene Albaner schließlich in ihre Heimat zurück. Heute ist der Kosovo eine unabhängige Nation.

Die Amerikaner zeigten moralische Autorität

Die Amerikaner, die das Gemetzel dort beendeten, handelten im Sinne des Allgemeinwohls und zeigten moralische Autorität. Hier haben wir unsere Macht effektiv und sinnvoll ausgeübt.

[Übersetzung aus dem Englischen: Max Tholl
Copyright: The New York Times Group.]
Natürlich hatte es Konsequenzen: unsere Machtausübung im Balkan lieferte China und Russland eine Ausrede für ihre spätere militärische Ausdehnung und eine aggressivere Politik. Der Kosovo sieht sich auch heute nach seiner Unabhängigkeit immer noch mit Anfeindungen von Serbien und dessen Partnern konfrontiert. Vielleicht hätten wir weitsichtiger sein und handeln können, um diese Auswirkungen abzumildern.
Aber die Nato und die USA haben ihr Hauptziel erreicht: das Ende der ethnischen Säuberung. Und das ist uns gelungen, weil wir auf dem Balkan, anders als in Ruanda, mit dem „Mut gehandelt haben, der aus der Treue zu allem, was edel und würdig ist, geboren wurde“. Das war die wahre Quelle unserer Macht.

Wesley Clark

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false