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Die Hauptangeklagten Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13.02.1946 in Nürnberg.

© DPA

Internationale Strafgerichtbarkeit seit Kriegsende: Seit den Nürnberger Prozessen müssen Kriegsverbrecher und Diktatoren sich fürchten

Das internationale Strafrecht hat sich seit 1945 rasant entwickelt. Heute werden in Deutschland Schergen des Assad-Regimes vor Gericht gestellt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Alle waren „außerordentlich nervös“. So fasste Erika Mann 1945 in einem Radiointerview ihren Eindruck von der Gruppe deutscher Kriegsverbrecher zusammen, die sie in Luxemburg gesehen hatte. Dort, im Hotel „Palace“ des Kurorts Mondorf-les-Bains, hatten die Alliierten Ende Mai 1945, vor 75 Jahren, Männer der NS-Führungselite in einem „Interrogation-Center“ interniert.

Unter den 52 Insassen waren auch spätere Angeklagte der Nürnberger Prozesse, wie Joachim von Ribbentrop und Hans Frank. „Reichsmarschall“ Göring soll 16 Koffer mitgebracht haben, Wertsachen, Geld und Mengen an einem Ersatzstoff für Morphium.

Durch die halboffene Tür des Lesesaals im Hotel durfte die Reporterin für die amerikanische Presse, Tochter des Exilanten Thomas Mann, in das improvisierte Gefängnis blicken. Einige der Internierten trugen Uniform, doch ohne Abzeichen. Krawatten, Gürtel und Hosenträger hatte man ihnen abgenommen.

In Sesseln sitzend schrieben alle „fieberhaft“, erinnerte die Beobachterin, die den Ort als „gespenstisch“ empfand, als „Irrenhaus“.

Damit hatten sie nicht gerechnet: Dass sie vor Gericht landen

Die Männer, verantwortlich für den millionenfachen Mord an der jüdischen Bevölkerung Europas, für Terror und Angriffskrieg, füllten Blätter zu ihrer Verteidigung. Sie verfassten, so Mann, „sinnlose Briefe“ an General Eisenhower oder den amerikanischen Präsidenten Truman.

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Nervös waren sie, denn ihnen stand bevor, womit Kriegsverbrecher nicht gerechnet hatten: Strafverfahren aufgrund ihrer Taten. Erika Mann berichtete in der Folge auch aus Nürnberg, wo die ruhige Präzision der Ankläger am internationalen Militärgerichtshof sie tief beeindruckte.

Die Nürnberger Prozesse von 1945, ebenso wie die Tokioter Prozesse in Japan ab 1946, markierten den Beginn vom Ende der Straffreiheit, den Auftakt zu internationaler Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen und Systemunrecht überhaupt.

Erstmals weltweit stehen Folterer des Assad-Regimes in Koblenz vor Gericht

Ohne Nürnberg und Tokio würden jetzt, im Mai 2020, auch nicht die beiden Syrer vor Gericht stehen, die sich im weltweit ersten Prozess gegen Verantwortliche des Folterregimes von Baschar al Assad am Oberlandesgericht Koblenz verantworten müssen.

Das „Weltrechtsprinzip“ erlaubt es der Bundesanwaltschaft, auch Taten zu verfolgen, die keinen Bezug zu Deutschland haben und im Ausland begangen wurden. Der 57 Jahre alte Anwar R., früherer Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes, soll grausame Misshandlungen von etwa viertausend Regimegegnern in einer Haftanstalt in Damaskus mitorganisiert haben. 58 der Gefolterten starben.

Eyad A., 43 Jahre alt, soll Demonstranten von der Straße weg in das Foltergefängnis verschleppt haben, wissend, was sie dort erwartete: Einzelhaft in engen Schächten, Schläge, Tritte, Elektroschocks. Nun treten in Koblenz ehemalige Opfer als Nebenkläger auf.

Die "goldene Dekade" ist die Zeit von 1993 bis 2002

Auf der Strecke zwischen Nürnberg und Koblenz liegen zentrale Stationen des internationalen Strafrechts, das seit etwa zwanzig Jahren rapide Fortschritte aufweist. Als Pionierphase gilt die Ära von 1945 bis 1950, als „goldene Dekade“ die Spanne von 1993 bis 2002.

In diese letzte Zeitspanne fiel die Gründung des UN-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag, die des UN-Ruanda-Tribunals (ICTR) in Arusha, Tansania 1994, die Verhaftung von Chiles Ex-Diktator Pinochet 1998 in London und 2002 die Inauguration des Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag.

Anders als Ad-hoc-Tribunale, die sich auf eine Region und einen Zeitraum konzentrieren, wie es sie auch für Verbrechen in Sierra Leone, Kambodscha und im Libanon gab, ist das ICC ein permanenter Weltstrafgerichtshof.

Im Prinzip ist es eine Art säkularer Version des im Jenseits imaginierten „Jüngsten Gerichts“. Sein diesseitiges Versprechen lautet: Niemand steht über dem Gesetz, kein General, kein Staatschef, kein Diktator.

Der Kriegsverbrecher Radovan Karadzic im Gerichtssaal in Den Haag.

© Michel Kooren/REUTERS

„Nürnberg jetzt!“ hatte der jugoslawische Jurist und Journalist Mirko Klarin am 16. Mai 1991 in der serbischen Zeitung „Borba“ gefordert. In massenhafter Hetzrede gegen ethnische Gruppen sah er die Zerfallskriege seines Landes heraufziehen und forderte, die Anstifter präventiv vor ein internationales, neutrales Gericht zu stellen.

Krieg, wusste Klarin, beginnt mit verbaler Perfidie, mit Hass in Sprachform. Gehör fand er nicht, doch er behielt recht. Der Krieg kam.

Klarin, der als Erfinder des ICTY gilt, arbeitete später jahrelang als Berichterstatter aus Den Haag, wo Kriegsverbrecher wie Slobodan Milosevic, Ratko Mladic oder Radovan Karadzic vor Richtern aller Kontinente standen.

Die "Nürnberger Prozesse" hatten die Welt verändert

Klarins Ruf nach „einem kleinen Nürnberg“ war so hellsichtig wie geschichtsbewusst. Er hatte vor Augen, welche epochale Veränderung „Nürnberg“ in die Welt getragen hatte. Von November 1945 bis Oktober 1946 liefen die Prozesse gegen die Führungsriege von NSDAP, Gestapo, SS und SA als „verbrecherische Organisationen“.

Nach dem totalen ethischen Bankrott des „Dritten Reichs“ wurden zum ersten Mal in der Geschichte Völkerrechtsverbrechen juristisch aufgearbeitet. Rache fürchtend, hatten Hitler, Goebbels und Himmler Suizid begangen. Angst vor Vergeltung beherrschte nahezu die gesamte Bevölkerung.

Der politische Wille der Alliierten kannte ein Kernziel: Die individuelle Verantwortung ranghöchster Funktionsträger des „Dritten Reiches“ sollte klar belegt werden, von Tätern wie Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Alfred Rosenberg, Baldur von Schirach und Wilhelm Keitel. Zwölf wurden zum Tod verurteilt, andere kamen für Jahre in Haft.

In den 1960er Jahren nahm Deutschlands eigene Justiz – unter anderem mit den Auschwitz-Prozessen – auch rangniedrigeres KZ-Personal ins Visier. Gleichwohl blieben tausende Täterinnen und Täter in Freiheit und Debatten um den „Schlussstrich“ ebbten nie ganz ab.

Machtverhältnisse im UN-Sicherheitsrat verhindern Sondertribunal zu Syrien

Experten wie Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), erkennen die globale Bedeutung und die historische Dimension des Verfahrens in Koblenz gegen die Vertreter des syrischen Regimes an. Leider, so Kaleck, „verhindern die Machtverhältnisse im UN-Sicherheitsrat, dass der Internationale Strafgerichtshof oder ein Sondertribunal tätig werden“.

Koblenz ist nur ein Anfang auf dem Weg zu gefestigten internationalen Strukturen des Strafrechts. Doch immerhin das.

Universalistische Konzepte werden neuerdings in Frage gestellt

Strafprozesse „von außen“ werfen indes Probleme auf. Teils sind sie logistischer Natur. Etwa: Wie gelangen deutsche Ermittler an Beweismaterial aus dem Bürgerkriegsland Syrien? Wie umgehen mit mehreren Sprachen vor Gericht, wie gelingt Zeugenschutz? Und wie vermittelt man Bevölkerungen betroffener Staaten die Legitimation ferner Gerichtshöfe? In Serbien wie Kroatien und Bosnien-Herzegowina gab es Vorhaltungen, das UN-Tribunal sei „einseitig gegen uns“. Das bedeutet, „dass wir etwas richtig machen“ konstatierte die damalige Chefanklägerin Carla del Ponte einmal, durchaus befriedigt.

Aktuell tauchen auch neue, ideologische Blockaden gegen internationales Strafrecht auf, da universalistische Konzepte wie Menschenrechte, Gerechtigkeit, Fortschritt oder strafrechtliche Verantwortung zunehmend in linken „postkolonialen“ wie rechten völkischen Diskursen diskreditiert werden.

Doch dieses Phänomen, darauf vertrauen Wissenschaftler wie Menschenrechtler, wird sich auf Dauer als Modeerscheinung des Zeitgeistes erweisen. Der Meilenstein von Nürnberg verwittert nicht.

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