zum Hauptinhalt
Die Staatsverschuldungsfrage wird wie ein Glaubenskrieg ausgetragen, kritisieren unsere Gastautoren - und fordern endlich sachliche Grundlagen für Defizitgrenzen,

© imago stock&people

Corona und die wachsende Staatsverschuldung: Schluss mit der Anbetung der Schuldenbremse

Das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Staatsverschuldung ist so ideologisch wie deren Grenzwerte willkürlich und überholt. Ein Gastbeitrag.

- Prof. Dr. Thomas Lenk, Christian Bender und Philipp Glinka sind Wirtschaftswissenschafter am Institut für Öffentliche Finanzen und Public Management an der Universität Leipzig,

Die Schuldenbremse wird in Zeiten der Corona-Pandemie wieder zu einem zentralen finanzpolitischen Diskussionsgegenstand. Bund und Länder machen – zurecht – von der verfassungsrechtlich vorgesehenen Ausnahmeregelung Gebrauch. Das bedeutet, dass die Schuldenbremse – anders als es in der öffentlichen Darstellung gelegentlich behauptet wird – nicht ausgesetzt oder gar durch kreative Konstruktionen aktiv umgangen wird, sondern unter besonderen Bedingungen und mit vorübergehender Abschwächung des Neuverschuldungsverbots in Kraft ist.

In dieser Situation geht es zum einen darum, die notwendigen ausgabelastigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise zu finanzieren und zum anderen darum, die krisenbedingt eingebrochenen Einnahmen durch Kredite auszugleichen, damit die Gebietskörperschaften zur Erfüllung ihrer Aufgaben weiterhin in der Lage sind. Dies bedeutet weder einen Verstoß gegen die Schuldenbremse noch einen fiskalischen Dammbruch, denn Bund und Länder nutzen eine im Grundgesetz ausdrücklich und für Zeiten wie diese vorgesehene Option.

Die Kreditaufnahme selbst setzt – je nach Landesverfassung bzw. Landeshaushaltsordnung – die formale Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation durch das Parlament voraus. Sie ist zudem an konkrete Regeln gebunden, wie zum Beispiel die Aufstellung eines Tilgungsplans und weitgehende parlamentarische Aufsichtsrechte (und -pflichten). Dies limitiert die Möglichkeiten der Regierungen und beugt einer Unterminierung der Schuldenbremse auch in Krisenzeiten vor.

Auch unabhängig von der Corona-Pandemie ist die Staatsverschuldung mittlerweile eine Art Gretchenfrage. Befürworter und Gegner stehen sich dabei erbittert gegenüber, nicht erst, seitdem die Thematik durch die Corona-Krise neu entfacht worden ist. Schon in den vergangenen Jahren entstand ein Dickicht unterschiedlichster Argumente, verschlungen mit Meinungen und ideologischen Vorstellungen.

Als augenscheinlicher Leuchtturm im dichten Nebel wirkt die Staatsschuldenquote. Diese gibt die Staatsverschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt, also der Wirtschaftsleistung eines Landes, wider. Dabei wird die Quote, gerade auf Seiten der Gegner zusätzlicher Verschuldung oftmals herangezogen, um zu begründen, warum eine zusätzliche Verschuldung geradezu fahrlässig sei. Zentraler Bezugs- und Orientierungspunkt ist dabei der im Vertrag von Maastricht – dem zentralen Grundlagenvertrag über die Europäische Union – festgeschriebene Referenzwert von 60 Prozent, den es einzuhalten gilt.

Eine sachliche Grundlage für die 60-Prozent-Marke gibt es nicht

Dabei wird indes gern unterschlagen, dass es sich bei diesem Wert lediglich um einen Mittelwert handelt, der zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts festgesetzt worden ist. Der Wert bildet somit eine politisch-pragmatische Festlegung. Eine sachlich überzeugende Grundlage fehlt für diesen Referenzwert hingegen.

Mit dem Schuldenstandskriterium korrespondiert das Defizitkriterium der Europäischen Union, nach dem sich die Mitgliedstaaten gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung jährlich um drei Prozent neu verschulden dürfen. Die zugrundeliegende Rechnung geht so: Bei einem (angenommenen) jährlichen Wirtschaftswachstum von fünf Prozent führt eine dreiprozentige Neuverschuldung dauerhaft nicht zu einer höheren Schuldenstandsquote. Nun liegen die 90er Jahre über zwei Jahrzehnte zurück und mit ihnen auch die Zeiten solch hoher jährlicher Wachstumsraten und durchschnittlicher Verschuldungsquoten von 60 Prozent.

Dennoch wird an einem längst veraltetem Schuldenstandskriterium festgehalten, ohne dieses nennenswert zu hinterfragen. Selbst die ökonomische Zunft ist sich uneinig, welche Verschuldungsquote als ‚nachhaltig‘ angesehen werden kann. Für Deutschland wird diese Quote für dieses Jahr laut Prognosen des Bundesfinanzministeriums auf rund 75 Prozent taxiert.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Im Vergleich zur Eurozone insgesamt (102  Prozent) kann somit nicht von einer unverhältnismäßig hohen Quote gesprochen werden.

Bei welchem Wert von einer nachhaltigen Schuldenstandquote gesprochen werden kann – bei 60, 70, 120 Prozent oder vielleicht eher 40  Prozent der Wirtschaftsleistung – bleibt unterdessen offen. Durch den Bezug zum Schuldenstandskriterium entzieht man sich diesem Diskurs und übergeht einen Punkt, der seit jeher umstritten ist.

Derweil hat sich der eigentliche Kriegsschauplatz maßgeblich verlagert. Die europäische, wie auch die nationale Fiskalpolitik misst seit Jahren dem sogenannten strukturellen – also dem um kurzfristige konjunkturelle Effekte und Einmaleffekte bereinigten – Saldo eine wesentlich höhere Bedeutung zu. Erlaubt ist für Deutschland ein strukturelles, also konjunkturunabhängiges Defizit von höchstens 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Für den Bund allein wurde die Grenze auf 0,35 Prozent festgelegt. Dies bildet die eigentliche Schuldenbremse des Bundes.

Statt über technische Details zu streiten führt man einen Glaubenskrieg

Eine Diskussion um die Einhaltung der Schuldenbremse sollte vor diesem Hintergrund nicht über das Schuldenstandskriterium, sondern über den Strukturellen Saldo – genauer: über die Ausgestaltung seiner rechnerischen Ermittlung – geführt werden. Hier wird es jedoch kompliziert. Das Verfahren, mit dem der strukturelle Teil der Haushaltssalden vom konjunkturellen Teil getrennt wird sowie mögliche Revisionen der Daten im Zeitverlauf und Prognosefehler führen immer wieder zu Anpassungen der Ergebnisse, die wiederum die Handlungsmöglichkeiten des Staates weitgehend beeinflussen. Auf diese technischen Details sollte künftig der Diskussionsfokus gelegt werden.

In der Vergangenheit war vielmehr das Gegenteil zu beobachten. Die Debatte um die Staatsverschuldung scheint einem dogmatischen Glaubenskrieg gleichzukommen, in dem überzeugende volkswirtschaftliche Argumentationsketten kaum eine Rolle spielen. Der eigentliche Sachverhalt und die sachliche Debatte geraten dabei unweigerlich ins Hintertreffen. Gleichwohl ist es jedoch der strukturelle Saldo als Bewertungsmaßstab selbst, der durchaus kritikwürdig erscheint. Daher stellt sich die Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, Richtlinien und Berechnungsgrundlagen zu diskutieren und anschließend zu reformieren. Das eigentliche derzeitige Problem liegt nicht in der Staatsverschuldung oder der Anwendung von Fiskalregeln per se, sondern in der Art und Weise, wie insbesondere Neuverschuldung ermittelt und bewertet wird. Für die Post-Corona-Zeit sollten wir Ökonomen uns dies wieder stärker ins Gedächtnis rufen und die Debatte weniger ideologisch führen.

Thomas Lenk, Christian Bender, Philipp Glinka

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false