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Die türkischen Medien meinen es zunehmend gut mit dem türkischen Präsidenten Erdogan.

© Murat Cetinmuhurdar/Presidential Press Office/Handout via REUTERS

Rücktritt von Erdogan-Schwiegersohn: Der Fall zeigt, wie tief die Medien in der Türkei gesunken sind

Erdogans Schwiegersohn ist als Finanzminister zurückgetreten und die türkischen Medien verschweigen es. Aber es gibt auch Kritik an der Selbst-Zensur.

Mitternacht war längst vorüber, als der türkische Journalist Cüneyt Özdemir unrasiert und mit dunklen Ringen unter den Augen eine Live-Sendung auf seinem YouTube-Kanal moderierte. Trotz der späten Stunde schauten Hunderttausende in der Nacht zum Montag der mehr als dreistündigen Sendung zu – bis zum Mittwoch wurde Özdemirs Beitrag mehr als 1,8 Millionen mal angeklickt.

Dabei machte Özdemir nur seine Arbeit: Er informierte seine Zuschauer über den Rücktritt von Finanzminister Berat Albayrak, einen Schwiegersohn von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Den Zuschauererfolg konnte Özdemir feiern, weil er einer der wenigen Journalisten im Land war, die über Albayraks Abgang berichteten. Alle großen Fernsehsender und Zeitungen verschwiegen den Rücktritt einen Tag lang, weil die Regierung jede Diskussion unterdrücken wollte.

Einsatz nach Mitternacht: Der türkische Journalist Cüneyt Özdemir informiert die Zuschauer seines YouTube-Kanals über den Rücktritt von Finanzminister Berat Albayrak.
Einsatz nach Mitternacht: Der türkische Journalist Cüneyt Özdemir informiert die Zuschauer seines YouTube-Kanals über den Rücktritt von Finanzminister Berat Albayrak.

© Susanne Güsten

Der Umgang mit Albayraks Rücktritt hat gezeigt, wie tief die meisten Medien in der Türkei gesunken sind. Sender und Zeitungen wagten es nicht, über den Rücktritt zu berichten, bis sie eine Weisung aus dem Präsidentenpalast erhielten. Weder die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu noch Zeitungen wie „Hürriyet“ oder Nachrichtensender wie CNN-Türk meldeten, dass Albayrak sein Amt aufgegeben hatte.

Von 1780 Radio- und Fernsehsendern in der Türkei berichteten nach Zählung von Faruk Bildirici, einem früheren Oppositionsvertreter in der Rundfunkaufsichtsbehörde, nur fünf über den Rücktritt.

Die Türkei sollte damit zum Tal der Ahnungslosen gemacht werden, während internationale Medien die Welt außerhalb des Landes darüber informierten, dass der Schwiegersohn des türkischen Staatschefs per Instagram seinen Rücktritt von einem der wichtigsten Posten in der Regierung verkündet hatte. Erst als Erdogan mehr als 24 Stunden später den Rücktritt seines Schwiegersohns annahm, hoben Anadolu und andere große Medien ihre Nachrichtensperren auf.

90 Prozent der Medien unterstützen Erdogan

Seitdem wird selbst in einigen Erdogan-treuen Medien Kritik an der Selbstzensur geäußert. Fernsehsender wie CNN-Türk und Zeitungen wie „Hürriyet“ gehören zu Großunternehmen, die Erdogans Regierung unterstützen, um sich das Wohlwollen des Präsidenten und öffentliche Aufträge zu sichern.

Über die Jahre hat sich die Regierung so die Gefolgschaft von schätzungsweise 90 Prozent der landesweiten Medien in der Türkei verschafft. Staatliche Medien sind ebenfalls zu Sprachrohren Erdogans geworden. Nach Albayraks Rücktritt habe Erdogan persönlich angeordnet, dass die Nachrichtenagentur Anadolu nicht über die Demission berichten solle, schrieb der frühere „Hürriyet“-Journalist Deniz Zeyrek, der jetzt bei der Oppositionszeitung „Sözcü“ arbeitet.

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Selbst Journalisten bei den Staatsmedien haben inzwischen Bauchschmerzen. Nach Albayraks Rücktritt riefen Mitarbeiter regierungsnaher Medien den unabhängigen Journalisten Rusen Cakir an und forderten ihn auf, den Abgang des Ministers zu melden, wie Cakir in seinem Internet-Fernsehkanal Medyascope berichtete. Sie selbst dürften es nicht.

Wegen dieser Zustände informieren sich immer mehr Türken bei Kanälen wie Medyascope oder Özdemirs YouTube-Kanal. Erdogans Regierung will diese alternativen Wege mit einem neuen Gesetz für die sozialen Medien stärker kontrollieren. Cakir ist aber sicher, dass Ankara diesen Kampf nicht gewinnen kann, weil die technologische Entwicklung immer neue Schlupflöcher ermöglichen wird.

72 Medienmitarbeiter sitzen in der Türkei im Gefängnis

Der Druck auf unliebsame Journalisten in der Türkei wächst trotzdem weiter. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof verurteilte die Türkei jetzt, weil die Justiz zehn Journalisten und Verlagsmitarbeiter der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ wegen angeblicher Verbreitung von Terrorpropaganda hinter Gitter gebracht hatte.

Nach einer Zählung der Journalisten-Gewerkschaft TGC sitzen derzeit 72 Medienmitarbeiter im Gefängnis. Bald könnten es noch mehr werden. Dem Türkei-Vertreter der Organisation Reporter Ohne Grenzen, Erol Önderoglu, und zwei Mitangeklagten drohen jeweils bis zu 14 Jahre Haft, weil sie eine kurdische Zeitung gegen staatliche Repressalien verteidigt hatten.

Selbst harmlose Straßenumfragen zur Lage im Land können für Journalisten und Bürger gefährlich werden. Die Justiz leitete jetzt Ermittlungen gegen einen YouTube-Kanal ein, weil er einen Passanten zu Wort kommen ließ, der die Regierung als „Familienunternehmen“ der Erdogans kritisierte. Der Journalist und der Befragte wurden von der Staatsanwaltschaft zum Verhör einbestellt.

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