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Ein Soldat hält sein Gewehr auf einem ukrainischen Panzer während schwerer Kämpfe an der Frontlinie in Sjewjerodonezk in der Region Luhansk.

© Oleksandr Ratushniak/AP/dpa

Tag 106 im Ukraine-Krieg: Rückzug oder nicht? Das ist für die Ukraine nun die Frage

Separatisten verurteilen drei Ausländer zum Tod, Scholz warnt vor „Teilung der Welt“ und weitere Entwicklungen des Tages. Der Überblick am Abend.

Die Opferzahlen der Ukraine im Kampf um den Donbass sind immens. Erneut sprach Kiew davon, dass täglich bis zu 100 Soldaten sterben. Die Verluste sind so hoch, dass mancher Experte bezweifelt, dass die Ukraine in einigen Wochen noch zu einer nennenswerten Gegenoffensive fähig ist. Die Frage ist also: Warum hält die Ukraine, warum hält der Generalstab in Kiew, so lange an der Verteidigung von Sjewjerodonezk fest? Ja, hat sogar noch Truppen zur Verstärkung geschickt. 

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Wie Selenskyj in der Nacht zu Donnerstag sagte, entscheide die Schlacht um Sjewjerodonezk das Schicksal des Donbass. Am Mittwoch schon warnte er: Erobere Russland den Donbass, hätten die Truppen eine gute Ausgangsbasis in die Zentralukraine vorzustoßen. 

Aus militärtaktischer Sicht verwundert Selenskyjs Aussage. Denn die ukrainischen Truppen könnten sich in die westlich liegende Nachbarstadt Lyssytschansk zurückziehen. Sie bietet gute Vorrausetzungen der Verteidigung. Sie liegt auf einer Anhöhe und ist durch einen Fluss von Sjewjerodonezk getrennt.

Lyssytschansk ließe sich leichter halten. Mancher Beobachter geht davon aus, dass die Entscheider in Kiew in den kommenden Tagen genau diesen Schritt anweisen. Freilich wird auch Lyssytschansk aktuell heftig von russischen Einheiten beschossen.

Wolodymyr Selenskyj hört einen Bericht eines Soldaten nahe der Frontlinie in der Region Donezk.

© Uncredited/Ukrainian Presidential Press Office/AP/dpa

Aber Selenskyj merkte schon vor einigen Tagen an, und das galt auch für Mariupol, dass es eventuell schwerer ist, eine Stadt wiederzuerobern, als sie zu halten. Das Ziel der Ukraine ist, alle von Russland besetzten Gebiete zu befreien. Wie zäh das ist, zeigt die nur langsam in Gang kommende ukrainische Offensive im Süden, nahe Cherson. 

Hinzu kommt, dass der Verlust von Sjewjerodonezk - wenn schon keine militärisch signifikante Niederlage – so doch ein symbolisch bedeutsamer Verlust wäre. Dann würde die Ukraine im Gebiet Luhansk nur noch Lyssytschansk kontrollieren. Die Hoffnung der Ukrainer ist vielleicht auch, die Verluste auf russischer Seite so in die Höhe zu treiben, dass ihr Vormarsch nachhaltig ausgebremst wird. 

Was ihnen helfen würde, so sind die Ukrainer überzeugt: langstreckenfähige Raketenwerfer aus dem Westen. Damit wäre Sjewjerodonezk „in zwei bis drei Tagen aufgeräumt“, sagte Serhiy Haidai, der Gouverneur von Luhansk, am Donnerstag. Diese Waffen werden aber frühstens in zwei bis drei Wochen an der Front sein. Aktuell werden ukrainische Soldaten in Polen an den US-Systemen ausgebildet.

DIE WICHTIGSTEN NACHRICHTEN DES TAGES IM ÜBERBLICK

  • Das Oberst Gericht der separatistischen Donezker Volksrepublik hat drei ausländische Kämpfer in den Reihen der Ukraine als Söldner zum Tode verurteilt. Es handelt sich um zwei Briten und einen Marokkaner.  Mehr dazu in unserem Newsblog.
  • Kiew hat aus dem Westen mehr als 150 schwere 155-Millimeter-Haubitzen aus Nato-Beständen bekommen. „Die Munitionsvorräte dieses Kalibers übersteigen bereits um zehn Prozent die Bestände großer sowjetischer Kaliber zum Stand 24. Februar 2022“, so Verteidigungsminister Olexij Resnikow bei Facebook.
  • Der britische Premierminister Boris Johnson hat westliche Staaten davor gewarnt, die Ukraine zu einem Friedensabkommen zu ihrem Nachteil mit Russland zu drängen. Versuche, der Ukraine einen „schlechten Frieden“ mit territorialen Zugeständnissen an Russland aufzuzwingen, seien „moralisch abstoßend“, sagte er.Eine Evakuierung von Sjewjerodonezk ist nach Angaben des Bürgermeisters nicht mehr möglich. Etwa 10.000 Zivilisten seien noch in der Stadt, sagte Olexander Strjuk.
  • Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk legt mit seiner Kritik an der früheren Bundeskanzlerin nach. Die Begründungen von Angela Merkel für die Blockade eines Nato-Beitritts der Ukraine bezeichnete er als „absurd“. Mehr dazu hier.Der polnische Präsident Andrzej Duda hat die Telefonate von Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit Kreml-Chef Wladimir Putin scharf kritisiert. Dabei bemühte er einen historischen Vergleich: „Hat jemand so mit Adolf Hitler im Zweiten Weltkrieg gesprochen?“ Mehr dazu hier.
  • Kanzler Scholz hat die Lieferung von Waffen und Militärgütern in die Ukraine erneut verteidigt. Zugleich warnte er vor einer „Teilung der Welt“. Mehr dazu hier.

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