zum Hauptinhalt

Großbritannien: Revolution in England – die erste seit 1695

Parlamentspräsident muss gehen. Das Land steht vor Neuwahlen und Gordon Brown vor schwerer Schlappe.

In der britischen Politik hat das große Aufräumen begonnen. Zum ersten Mal seit 1695 wurde am Dienstag ein „Speaker“, ein Parlamentspräsident, aus dem Amt gejagt. „Er ist nur die Spitze des Eisbergs“, kommentierte der Labourabgeordnete John Mann. „Die Öffentlichkeit wollte Blut sehen, und sie hat es bekommen.“

Speaker Michael Martin hatte am Montag unter tumultartigen Szenen im Unterhaus die Personaldebatte verweigert und Rücktrittsforderungen ignoriert. Am Dienstagnachmittag nach kurzem Manövrieren hinter den Kulissen, auch wohl von Premier Gordon Brown, kündigte er mit einem trockenen Satz ohne weiteren Kommentar seinen Rücktritt an, „damit die Einheit gewahrt bleibt“. Damit verhinderte er eine Misstrauensdebatte, die das Ansehen des Unterhauses weiter beschädigt hätte. Am 21. Juni wird er gehen.

Der Skandal um die systematische Selbstbereicherung von Politikern durch ungerechtfertigte Spesenrechnungen hat die Legitimität des Parlaments und aller großen Parteien schwer beschädigt. Vor allem aber geht es um das Überleben der Regierung von Gordon Brown, der bei der Europawahl am 4. Juni vor einer persönlichen Wahlschlappe steht. Umfragen zufolge könnte die Anti-EU-Partei UKIP an Labour vorbeiziehen. Dies könnte eine Parteirevolte gegen Brown auslösen. Der Labour-Abgeordnete Rob Marris ist nicht der Einzige, der glaubt, die Krise könnte zu einer Neuwahl noch in diesem Jahr führen – mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen für die Zukunft des Lissabon-Vertrags.

Martin hatte versucht, die Veröffentlichung der Spesenrechnungen, die so viel Furore machen, per Gerichtsentscheid zu verhindern. Schon deshalb hielten ihn nur wenige Abgeordnete für die geeignete Galionsfigur für die grundlegende Reform des Parlaments, die nun ansteht. Nächstes Opfer war der Tory-Abgeordnete Douglas Hogg. Er kündigte an, er werde bei der nächsten Wahl nicht mehr kandidieren. Tory-Chef David Cameron stellte unmissverständlich klar, dass kein Wahlkreis für Abgeordnete sicher sei, die sich nicht korrekt benommen hätten.

Auch über 100 Labour-Aktivisten forderten das Parteipräsidium in einem Brief auf, Abgeordneten, die sich unkorrekt verhalten haben, die Wahlkreise wegzunehmen. Schlimmer ist, dass sie in dem Brief Parteichef Gordon Brown Versagen und mangelnde Führungsschwäche vorwerfen. 70 Prozent der Briten glauben, dass Brown in der Spesenkrise schlecht aussah, während 55 Prozent die Entschlossenheit von Tory-Parteichef David Cameron loben.

Der stellte sich geschickt an die Spitze des Volkszorns und startete eine „Petition“, in der er sofortige Neuwahlen fordert. „Das ist die Katharsis, die das Land braucht. Es gibt keinen anderen Weg.“ Unterstützt wird er von der „Sun“, die am Montag mit der dramatischen Schlagzeile „In Gottes Namen, geht“ an die Kioske ging. Mit diesen Worten löste Oliver Cromwell 1653 ein korruptes Parlament auf, das „das Land für ein Linsengericht verkaufte“. Dies sind die historischen Dimensionen, in denen die Briten diese Krise sehen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false