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Lebenslange Weiterbildung gehört zur neuen Arbeitswelt. Auch in der Krise.

© Axel Heimken/dpa

Reform des Arbeitsmarktes: Es ist Zeit für eine atmende Arbeitsversicherung

Digitale Weiterbildung während der Kurzarbeit, Arbeitslosengeld I aufstocken. Nothilfen dürfen nicht Strukturwandel der Zukunft ausblenden. Ein Gastbeitrag

Wolfgang Schroeder ist Professor der Politikwissenschaften an der Universität Kassel und Günther Schmid ist Professor für politische Ökonomie an der FU Berlin

Die Corona-Krise trifft auch unsere Republik mit voller Wucht. In der Kontroverse, ob die gesundheitlichen oder die wirtschaftlich-sozialen Folgen schlimmer sind, gibt es für beide Positionen triftige Argumente. Wirtschaft und Arbeitsmarkt scheinen für eine zeitlich begrenzte Krise gut aufgestellt zu sein. Doch was ist danach? Die "Bazooka", die unsere zuständigen Minister in Stellung brachten, wird die Lage kurzfristig mildern.

Doch bietet sie auch eine Zukunftsperspektive? Während die Maßnahmen auf die Krise begrenzt sind, werden die Folgen der Corona-Krise längerfristig wirken und den Strukturwandel beschleunigen. So kann es nicht nur darum gehen, wie lange wir die Verlierer der Krise alimentieren können; es muss auch darum gehen, wie wir in der Krise die Weichen für die Zeit danach stellen.  

Offensichtlich wird schon jetzt, dass die systemrelevanten Berufe in der pandemischen Risikogesellschaft andere sind als in der auf Wachstum und Arbeitsteilung getrimmten Industriegesellschaft. Die Beschäftigten in den personennahen Dienstleistungen (Gesundheit, Erziehung, Bildung, Pflege und Versorgung) waren schon in den letzten Jahrzehnten die "Helden" und "Heldinnen", die das Gespenst „Uns geht die Arbeit aus“ gebannt hatten. 

Jetzt, in der pandemischen Krise, wird uns das noch deutlicher bewusst. Vor allem, dass diese Berufe unter Wert bezahlt werden und ihre Dienste unter teils unwürdigen Arbeitsbedingungen erledigen müssen. Nun rächt sich auch, dass der Personalbedarf des öffentlichen Dienstes in Nachahmung der neoliberalen Personalpolitik privater, vor allem transnationaler Unternehmen, in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende bis zum letzten Hemd abgespeckt wurde.

Statt Fachkräfte aus dem Ausland zu holen, müssen wir in Weiterbildung und Aufstiegschancen investieren

Personelle Kapazitätsreserven sind jedoch erforderlich, um  auf die wachsenden Unsicherheiten der global vernetzten Umwelt – einschließlich Klimawandel – gewappnet zu sein. Schließlich offenbart sich auch beschäftigungspolitische Kurzsichtigkeit oder gar ein Mangel an internationaler Solidarität: aufwändige Reisediplomatie bemüht sich darum, Fachkräfte in den Nachbarstaaten (etwa im Pflege- und Gesundheitsbereich, im Saisongewerbe) abzuwerben statt massive Anreize zu setzen, in Ausbildung und Weiterbildung selbst zu investieren und entsprechende Bildungsanstrengungen durch anständige Bezahlung und gute Aufstiegschancen zu honorieren.  

Bund, Länder, Kommunen und die Tarifpartner sollten diesem Struktur- und Wertewandel möglichst bald gerecht werden: Eine konzertierte Aktion für systemrelevante Berufe ist notwendig. Ziel sollte es dabei sein, die symbolische Anerkennung, die gegenwärtig mancherorts abends am Balkon durch Applaus gewährt wird, durch eine nachhaltige, finanzielle Aufwertung zu ergänzen. Dies würde letztlich ja nicht mehr bedeuten als diese den traditionellen, männlichen Berufen der Industriegesellschaft gleich zu stellen.  

Darüber hinaus wird diese – die persönlichen Kontakte nebst Reisetätigkeiten auch dauerhaft einschränkende – Krise nun der Digitalisierung einen gewaltigen und nachhaltigen Schub geben. Tätigkeiten analoger Art werden weiter abnehmen. Mehr und mehr Menschen werden im Laufe ihres Erwerbslebens unterschiedliche Tätigkeiten und Berufe wahrnehmen. 

Doch wie lassen sich diese Übergänge so organisieren, dass individuelle und gesellschaftliche Kosten begrenzt werden? Die Arbeitslosenversicherung deckt nur das Lohnrisiko bei Arbeitslosigkeit, nicht die Einkommensrisiken bei diversen Wechseln zwischen Arbeitsplätzen, Arbeitszeiten oder Berufen im individuellen Erwerbsverlauf. 

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Die Corona-Krise betrifft Beschäftigte in vielen Bereichen, auch und besonders im Niedriglohnsektor sowie die kreativen Selbstständigen. Das Kurzarbeitergeld hat sich in der Rezession 2008/09 bewährt; viele Länder um uns herum sehen darin ein nachahmenswertes Modell. Auch die USA. Dort hat sich binnen einer Woche die Zahl der Arbeitslosengeldanträge von sonst üblichen 200 000 auf 3,3 Millionen erhöht.

In einem bravourösen Kurzverfahren hat unsere Regierung das Instrument des Kurzarbeitergelds hochgefahren, um eine solche Katastrophe zu vermeiden. Doch es gibt einige Fragen: Erstens: Wie kann man Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor, die der Arbeitgeber nicht in der Lage ist weiter aufzustocken, so absichern, dass die Beschäftigten nicht in die Grundsicherung fallen. 

Zweitens stellt sich die bereits in der letzten Krise gestellte Frage, wie die Zeit der Kurzarbeit besser für Qualifizierung und Weiterbildung genutzt werden kann. Angesichts der eingeschränkten Mobilität vorzugsweise digital. Der Weg ins Home-Office, der ja nur von einem kleineren Teil der Beschäftigten eingeschlagen werden kann, ist zugleich auch eine arbeits- und technologiepolitische Herausforderung, die deutlich über die Krise hinausweist. Homeoffice muss gestaltet werden, um zu einer positiven neuen Arbeitswelt beitragen zu können. 

Die Entscheidung, die Höhe des Kurzarbeitergelds beim Stand der Gesetzeslage zu belassen (60 oder 67 Prozent Ersatz des Lohnausfalls), deutet darauf hin, dass „nur auf Sicht“ gefahren wird, anstatt die Weichen schon jetzt für die Zukunft zu stellen. Was wäre nötig, um über das Krisenmanagement hinaus zu denken und zu handeln?  

Die Arbeitslosenversicherung muss zu einer atmenden Arbeitsversicherung werden

An erster Stelle stünde ein Perspektivenwechsel, nämlich die Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung, die nicht nur Arbeitslose, sondern auch Erwerbstätige unterstützt. Sicher, jetzt ist nicht die Zeit, grundlegende Gesetzesreformen in die Wege zu leiten. Aber schon jetzt könnten Konsequenzen aus diesem Perspektivenwechsel gezogen werden, wenn den Grundprinzipien für eine zukunftsfähige Sicherung der Übergangsrisiken im Erwerbsverlauf gefolgt wird: Wir brauchen, erstens, eine atmende Arbeitsversicherung – generös in schlechten, restriktiv in guten Zeiten; zweitens eine gemischte und flexible Finanzierung von Beiträgen und Steuern; drittens mehr persönliche Autonomie in der Risikovorsorge; viertens, schließlich, transnationale – also europäische Elemente der Absicherung. 

Dem Prinzip einer atmenden Versicherung zu folgen hätte vier unmittelbare Konsequenzen: Erstens sollte das Kurzarbeitergeld für Geringverdiener befristet auf bis zu 100 Prozent Lohnersatz erhöht werden, bei Weiterbildung darüber hinaus. Das brächte einen Motivationsschub, eine neue Wirksamkeit und damit letztlich eine Nachhaltigkeit, wie sie kaum besser herzustellen wäre, um Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. 

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Wo immer möglich, sollte Kurzarbeit mit Qualifizierung verknüpft werden, denn der Fachkräftemangel wird sich nach der Krise verschärfen, vor allem deswegen, weil dann viele stornierte Aufträge zu erledigen sind. Zweitens sollte die maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I – zeitlich befristet – um mindestens sechs Monate erhöht werden, um den Abfall in die Grundsicherung zu vermeiden.

Drittens sollte das Arbeitslosengeld I für Geringverdiener befristet auf 100 Prozent aufgestockt werden, um einen anständigen Lebensunterhalt in einer Zeit zu gewährleisten, wo die Suche nach einem neuen Arbeitsverhältnis hoffnungslos, wenn nicht sogar – durch lohndrückendes Auskonkurrieren anderer Arbeitssuchender – schädlich ist. Aus demselben Grund machen, viertens, in einer solchen Zeit Sanktionsdrohungen bei der Grundsicherung (Arbeitslosengeld II) keinen Sinn; es ist erfreulich, dass die Bundesregierung den Zugang zu dieser Grundsicherung erheblich erleichterte.  

Arbeitsagentur muss Rücklagen für Qualifizierung einsetzen

Aus dem Prinzip einer gemischten und flexiblen Finanzierung folgt, dass die "generösen" Zusatzleistungen über Steuern und Kredite statt über Beitragszahlungen finanziert werden. Diesem Prinzip folgt die Regierung schon jetzt. Es muss hier jedoch in Erinnerung gerufen werden, denn sonst besteht die Gefahr, dass die Bundesagentur für Arbeit ihre Rücklagen von 26 Milliarden Euro nur für unmittelbare Notmaßnahmen verzehrt, anstatt sie viel stärker als bisher für Arbeitsförderung und Qualifizierung einzusetzen. 

Zum Prinzip größerer Autonomie gehört zunächst das einklagbare Recht auf Weiterbildung. Wenn es richtig ist, dass der Qualifikationsbedarf  generell nicht prognostizierbar ist, dann rücken Einschätzungen und Wünsche der Individuen in den Vordergrund. Dazu gehören intensive Beratungen, die auch die Arbeitgeber einschließen sollten.

Jede Krise bietet auch Chancen. Viele Betroffene werden sich jetzt noch intensiver fragen: Ist meine jetzige Beschäftigung oder mein jetziger Beruf das Richtige? Soll ich jetzt nicht die Chance ergreifen, eine Berufsausbildung nachzuholen oder gar meinen Beruf zu wechseln?

Massive Kurzarbeit zum Erhalt des Arbeitsplatzes oder der qualifizierten Beschäftigten ist richtig, aber sie darf nicht den längerfristigen Strukturwandel aus dem Auge verlieren und die Bereitschaft der Individuen abwürgen, diesen Strukturwandel selbst in die Hand zu nehmen. Langfristig würde eine solche individuelle Risikobereitschaft auch Mobilitätsketten schaffen, die der Anpassungsfähigkeit des gesamten Arbeitsmarkts und der Gesellschaft zugutekäme.  

Nationaler Bildungsfonds soll besonders kleine Arbeitgeber und Geringverdienende unterstützen

Dazu müssen Ressourcen vorab und planbar zur Verfügung stehen. Jetzt, im Krisenfall, durch einen Sonderfonds; in Zukunft am besten durch einen Nationalen Bildungsfonds mit individuellen Ziehungsrechten. Zur Umsetzung von Weiterbildung, schließlich, müssen die unterschiedlichen Ausgangslagen der Beschäftigten durch eine gerechte Risikoteilung berücksichtigt werden.

Geringverdiener sowie kleine Arbeitgeber brauchen größere Unterstützung als Gut- und Hochverdienende oder große Arbeitgeber, denen auch Sparleistungen oder Rücklagen zur Risikovorsorge zuzumuten sind. In der jetzigen Krisenlage mit massenhafter Kurzarbeit sollten Geringverdiener auch stark mit Sachleistungen zu Ausrüstung ihres "Homeoffices" unterstützt werden.   

Sehr zu begrüßen ist, dass der deutsche Finanzminister sich erneut mit einer Initiative für eine europäische Arbeitslosenrückversicherung gegen eine rigide Renationalisierung des Corona-Krisenmanagements stemmt: Dagegen kommt Brüssel – wenn überhaupt – nur langsam in Fahrt. Zwar hat die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt, sie wolle sich für eine europäische Arbeitslosenrückversicherung einsetzen; Schritte in diese Richtung sind jedoch noch nicht erfolgt. 

Eine Rückversicherung würde Mindeststandards der extrem diversen nationalen Arbeitslosenversicherungen voraussetzen. Darüber hinaus ist der Europäische Sozialfonds (ESF) in den bisherigen Verhandlungen des mittelfristigen Haushalts (2021-2027) arg gezaust worden; nun besteht noch weniger Spielraum für beschäftigungswirksame Maßnahmen aus diesem Fonds.

Wenn Deutschland die Präsidentschaft des Rats im Juli übernimmt, sollte die Regierung versuchen, das Blatt zu wenden. Darüber hinaus wäre es sinnvoll, den ESF zu einem Europäischen Beschäftigungs- und Sozialfonds auszubauen, um die Prinzipen der Arbeitsversicherung europaweit zu festigen. Denn eines ist gewiss: Die pandemische Risikogesellschaft erfordert einen neuen Sozialvertrag; und dieser kann nicht nur auf dem Prinzip des Nationalstaats beruhen.   

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