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Die SPD-Parteivorsitzende Andrea Nahles

© Carsten Koall / dpa

Real existierende Realitätsflucht: Die SPD muss wieder Gründe liefern, sie zu wählen

Die SPD hat die Sozialdemokratie verlernt, sie muss sie wieder einüben. Denn die Europawahl und der Urnengang in Bremen werden trist. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Wenn die SPD ehrlich mit sich wäre, bis auf den Grund, dann würde sie aufhören, sich ihre Lage auch nur ansatzweise schönreden zu wollen. Wer nämlich Tatsachen als bloße Meinungen ansieht, meinte Hannah Arendt, der begeht Realitätsflucht. Und Realität ist: Die SPD ist in ihrer Existenz gefährdet.

Nein, nicht morgen und nicht übermorgen. Obwohl: Je nachdem, wie man die Bedeutung dieser Worte dehnt… Die Europawahl wird trist, und das ist schon eingepreist. Wie Niederlagen bei einem Verein, der vom Abstieg bedroht nur noch auf ein Pünktchen hier und da hofft.

Etwa in Bremen? Bei dieser Wahl ist es kein Erfolg, wenn sich die SPD danach gerade noch in die Regierung retten könnte. Unabhängig davon kommt das Signal an: Mehr als 70 Jahre SPD an der Spitze sind genug, eigentlich. Das muss man sich mal vorstellen: Die Partei von Wilhelm Kaisen, Hans Koschnick und Henning Scherf und wie sie heute dasteht.

Aber so steht ja die SPD insgesamt da. Im Bund werden längst Wetten angenommen, wann die Chefin Andrea Nahles welches Amt verliert; abgibt, um es freundlich zu sagen. Im Moment wird auf den Fraktionsvorsitz getippt. Die stolze Sozialdemokratie, mehr als 150 Jahre staatstragend, schaut mehr aufs Personal als auf die Themen; jedenfalls ist das die Wahrnehmung, weil Personalquerelen alles überlagern. „Eine schlimme Situation“, sagt Michael Müller, Berlins Regierender, öffentlich für alle, die in den Ländern Verantwortung tragen.

Schlimme Situation? Eine Untertreibung!

Eine schlimme Situation – das kann nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland noch die Untertreibung des Jahres werden. Sicher, manches ist hausgemacht, aber in den Ländern schauen inzwischen alle Wähler auf die Performance im Bund. Wo gerade sozialpolitische Themen fröhliche Auferstehung feiern, Mieten und Wohnen und Arbeit und Rente, alles das.

Doch nicht nur, dass die SPD-Vorderen nach all den Jahren immer noch streiten, wie sie mit der Agenda-Politik umgehen – einheitliche Positionen zu den geänderten Herausforderungen fehlen. So wird ein im klassischen SPD-Milieu nachwirkender Vertrauensbruch nicht geheilt. Und dann kommt auch noch der junge Kevin Kühnert mit altlinken Thesen, die weiter verunsichern.

Was ist die, erwähnen wir es trotzdem noch einmal, Kernkompetenz der SPD? Antwort: „Die soziale Stimme der Bürgerinnen und Bürger zu sein.“ Sagt Müller als Mahnung.

Und was heißt das? Anzuerkennen, dass die Republik durch die Digitalisierung gerade eine wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Revolution erlebt. Eine Revolution! Das ist die Dimension. Und die Aufgabe, die Veränderungen zu gestalten. Wenn die SPD darin nicht glaubwürdig ist, dann gibt es bald keinen Grund mehr, sie zu wählen. Nicht mal für die verbliebenen 15 Prozent.

Sie hat es sehr weit getrieben. Von wegen Partei der Solidarität – die müsste sie erst einmal wieder selbst einüben. Am besten kommen mal alle gewesenen Vorsitzenden mit der amtierenden zusammen, um ein Lebenszeichen zu senden. Eines nach Art von Rudolf Scharping: Es gibt etwas, das größer ist als wir – die Sozialdemokratie. Stattdessen kreisen sie in den Führungskreisen um sich selbst.

Nach dem Heide-Simonis-Motto: Und was wird aus mir? Nur zur Erinnerung: Simonis hat verloren. Und die Sozialdemokraten in anderen Ländern sind auch verschwunden.

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