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Die Querdenker-Bewegung zieht immer mehr Rechtsextremisten an - das macht sie nach Ansicht des Verfassungsschutzes beobachtungswürdig. (Archivfoto vom November 2020 aus Hannover)

© Hauke-Christian Dittrich/dpa

Querdenker und der 1. Mai: Der demokratische Staat ist die vulnerable Gruppe

Die Beobachtung der Querdenker durch den Verfassungsschutz soll Klarheit schaffen. Aber sie ist auch Ausdruck einer staatlichen Übergriffigkeitsneigung. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Man könnte regelrecht nostalgisch werden beim Gedanken an vergangene Maifeiertage in Berlin. Tagsüber Demonstrationen mit Gewerkschaft und Familie und ab Dämmerung Krawalle in Kreuzberg mit Chaoten und Polizei. Es war schrecklich und nervenzerrend und am Ende haben fast immer Menschen geblutet, aber es war einigermaßen übersichtlich. Der Verfassungsschutz hat Teile der gewaltbereiten Linksextremisten beobachtet, man wusste in etwa, mit wem man es zu tun hat.

Nach mehr als einem Jahr Corona ist mit es mit der Übersichtlichkeit vorbei. Jenseits der bekannten politischen Refugien der Konflikt- und Gewaltbereiten hat sich auf der mentalen Ebene eine aggressive Stimmung breit gemacht, die an vielen Streitpunkten leicht entzündbar ist. Es ist inzwischen üblich geworden, von der gespaltenen Gesellschaft zu sprechen, aber das schafft das unpassende Bild von einem sauberen Schnitt. Eher ist etwas zerborsten in Zacken und Splitter, die verkantet sind, verkeilt, aber noch zusammenhängend.

Parallel dazu ist mit den „Querdenkern“ eine unübersichtliche Protestgruppe omnipräsent geworden, die gegen die Pandemiepolitik zu Felde zieht. Zu ihr gehören jene, die kritisieren und protestieren, jene, die die Nerven verloren haben und sich von geheimen Mächten bedroht sehen, und jene, die konkret Gewalt wollen und Umsturz, die immer öfter als Rechtsextremisten auffliegen.

So schwer es ist, auf die gesellschaftliche Zersplitterung angemessen zu reagieren, so schwer fällt das auch bei den „Querdenkern“. Das zeigt sich, wenn die Gruppe je nach Neigung und Blickwinkel mal für mehr, mal für weniger bedrohlich gehalten wird, und das zeigt auch die Reaktion des Staates. Der Verfassungsschutz hat sich in Stellung gebracht, und zu seiner Arbeitserleichterung wurde ein neuer „Phänomenbereich“ erfunden: die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“.

Die Befugniserweiterung ist gummiartig

Es klingt so diffus, wie die Lage ist. Aber kann eine gummiartige Befugniserweiterung für den Verfassungsschutz wirklich Klarheit schaffen – oder ist sie Ausdruck einer staatlichen Übergriffigkeitsneigung?

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Man hat auf vermeintliche innere Gefahren schon früher mit Hilfe der Geheimdienstler reagiert, etwa beim „Radikalenerlass“, der bis Mitte der 80er Jahre durch eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz verhindern sollte, dass „Verfassungsfeinde“ in den öffentlichen Dienst kommen. Die Maßnahme richtete sich gegen das linke Milieu und wurde mit lauten Protesten quittiert. Die bleiben heute aus.

Dabei adressiert der Verfassungsschutz die Gummiartigkeit seines neuen Phänomenbereichs sogar selbst. Er werde nicht alle Personen aus der „Querdenken“-Szene beobachten, sondern nur die, bei denen es Anhaltspunkte auf verfassungsfeindliche Bestrebungen gebe. Na, hoffentlich – oder soll man jetzt etwa „Danke“ sagen?

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Als die Ausgangssperre in Kraft trat, hatte es ähnliche Selbstbeschränkungsankündigungen gegeben: Man wolle private Wohnungen „mit Augenmaß“ kontrollieren, hieß es da von Seiten der Polizei. Auch so eine verstörende Zusicherung. Ist der Gesellschaft das Interesse an ihren Freiheitsrechten abhandengekommen? Erklärlich wäre es. Seit mehr als einem Jahr werden die je nach Infektionslage gekappt und dadurch in ihrer Grundgültigkeit beschädigt. Es werden Gefahren definiert und dann wieder kassiert. Viele Menschen dürften stumpf geworden sein, sie wollen nur noch, dass Impfstoff kommt oder der Spuk endet.

Die Pandemie hat das demokratische Staatswesen auf eine Art selbst zu einer vulnerablen Gruppe gemacht, mit der man besonders rücksichtsvoll umgehen sollte. Das hat die Politik bisher Mal um Mal versäumt, was sich an den Gerichtsurteilen abzählen lässt, die ihre Gesetze für nicht verfassungskonform erklärt haben. Die „Querdenker“ wurden dadurch jedesmal gestärkt, die Konfliktbereitschaft genährt. Dagegen hilft der Politik auch kein Verfassungsschutz mehr. Das muss sie selbst schaffen.

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