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Hart geht die Polizei gegen Unterstützer der Studierenden vor.

© AFP/ Bulent Kilic

Proteste in der Türkei: Die Polizei belagert Istanbuls Studierende

Seit einem Monat demonstrieren Studenten gegen den neuen Rektor der Istanbuler Bosporus-Universität – und Erdogan. Einen Dialog will seine Regierung nicht.

Vor dem Tor der renommierten Bosporus-Universität in Istanbul herrscht Belagerungszustand. Hohe Absperrgitter riegeln die Straßen ab, gepanzerte Fahrzeuge und Wasserwerfer warten in den Seitengassen, Polizisten in Kampfmontur und mit Schnellfeuergewehren patrouillieren. Seit Wochen schon ist das so. Bereitschaftspolizisten sitzen im Hof einer nahen Moschee, während die Studierenden einen Spießrutenlauf durch die Reihen der Sicherheitskräfte absolvieren müssen, um auf ihren Campus zu kommen.

Gelehrt und studiert wird derzeit nicht, dafür gibt es hin und wieder brutale Polizeieinsätze wie zu Wochenbeginn, als mehr als 150 Studierende festgenommen und in Handschellen abgeführt wurden. Trotzdem kommen auch an diesem Mittwochvormittag wieder viele Studenten zur Uni. „Wir wollen Demokratie hier und an allen Universitäten“, sagt der 22-jährige Philosophiestudent Ali.

Ali, der seinen wirklichen Namen aus Angst vor Repressalien nicht nennen will, ist zum Campus gekommen, um seine Dozenten zu unterstützen. Die Lehrkräfte stellen sich aus Protest gegen den neuen Rektor jeden Tag mit dem Rücken zum Rektoratsgebäude auf den Rasen. Sie wehren sich gegen die Entscheidung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, den regierungsnahen Akademiker Melih Bulu als Rektor der Bosporus-Universität einzusetzen. Seit Erdogans Erlass vom 1. Januar gibt es Proteste an der Universität, die zu den besten des Landes zählt und die bisher ihre Rektoren stets selbst gewählt hat.

Der Graben zwischen der jungen Generation und der Regierung ist tief

Die Demonstrationen richten sich auch gegen den selbstherrlichen Führungsstil des 66-jährigen Erdogan. Sie zeigen, wie tief der Graben zwischen der jungen Generation und der türkischen Regierung ist, die seit fast 20 Jahren an der Macht ist. Manche halten ihn für nicht mehr überbrückbar. Erdogans nationalistischer Koalitionspartner Devlet Bahceli sagt, die Demonstranten seien „nicht unsere Kinder“, sondern Vandalen, Barbaren und „Giftschlangen, denen man den Kopf zertreten muss“.

Bulu ist siegesgewiss. Rücktrittsforderungen der Opposition weist er zurück, denn er hat Erdogan im Rücken, und das ist für Staatsangestellte wie ihn das Allerwichtigste. Die Proteste bezeichnet er mal herablassend als Auswüchse jugendlicher Hormonschübe, mal als das Werk staatsfeindlicher Provokateure.

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Innenminister Süleyman Soylu, der führende Hardliner in Erdogans Kabinett, nennt die Studenten „Perverse“, weil bei einer Kundgebung ein Bild der Kaaba in Mekka mit einer LGBT-Fahne kombiniert wurde und weil die Bosporus-Universität bisher einen LGBT-Club hatte. Die Behörden haben den Club jetzt geschlossen. Die LGBT-Kultur, sagt Soylu im Fernsehen, sei der Türkei fremd und werde vom Westen ins Land getragen, um die Institution der türkischen Familie zu zerstören.

Erdogans Regierung will keinen Dialog

Ein Dialog ist unmöglich. Die Regierung will ihn sowieso nicht, wie die Hundertschaften vor den Zugängen zur Bosporus-Uni zeigen. Jeder Widerstand soll im Keim erstickt werden. Eine Solidaritäts-Demo im Stadtteil Kadiköy wurde am Dienstagabend von der Türkei mit Reizgas und Plastikgeschossen aufgelöst, wieder wurden Dutzende festgenommen. Die Behörden hatten die Kundgebung mit Verweis auf die Corona-Pandemie verboten – während zeitgleich die Versammlung eines islamistischen Verbandes in Istanbul stattfinden durfte und Erdogans Regierungspartei AKP derzeit eine ganze Serie von Landesparteitagen in vollen Hallen abhält.

Entmutigen lassen sich die jungen Leute nicht. „Das hier wird weitergehen, es wird sich ausbreiten, und am Ende wird der Rektor zurücktreten“, ist ein Student sicher. Die vergangenen Wochen haben schon jetzt viel Schaden angerichtet. Bereits vor Ausbruch der Proteste sahen fast zwei von drei jungen Türken ihre Zukunft im Ausland. Für knapp 70 Prozent ist die Meinungsfreiheit sehr wichtig, ergab eine Befragung der Stiftung Sodev, die mit der Friedrich-Ebert-Stiftung kooperiert.

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