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In Zouk, nördlich von Beirut, geraten Demonstranten und Soldaten aneinander.

© Mohamed Azakir/Reuters

Proteste im Libanon: „Der Hunger ist größer als die Angst“

Trotz Coronapandemie wird wieder demonstriert. Die Verzweiflung über die desolate wirtschaftliche Lage wächst täglich und treibt viele Menschen auf die Straße.

Die „Libanesische Revolution“, die so hoffnungsvoll und friedlich im Oktober vergangenen Jahres begonnen hatte, schien in den Dornröschenschlaf gefallen. Die Coronapandemie und damit einhergehende strenge Ausgangsbeschränkungen ließen die mehr als sechs Monate andauernden Proteste - die sich vor allem gegen Korruption und Misswirtschaft der eigenen Eliten richten - fast so schnell verschwinden, wie sie begonnen hatten.

Wut und Hass der libanesischen Bevölkerung  gegenüber ihrer eigenen Regierung lassen sich jedoch weder mit nächtlichen Ausgangssperren noch mit dem von aller Welt herbeigesehnten Corona-Impfstopp ersticken.

Die katastrophale finanzielle Lage des kleinen Mittelmeerlandes hat sich durch den landesweiten Lockdown nochmals verschärft. Der Libanon ist de facto pleite, seit Monaten sieht sich die heimische Währung, die Libanesische Lira, einem unaufhaltsamen Werteverlust ausgesetzt.  Die vergangenen Tage markierten immer wieder neue Rekorde des Lira-Verfalls.

Am Wochenende machte in den Sozialen Netzwerken das Bild einer Cornflakespackung die Runde. Die ausländische Marke soll im Supermarkt laut Preisschild knapp 35.000 Libanesische Lira kosten - mehr als 23 US-Dollar.

Auf dem Plakat der Demonstrantin steht: "Mein Gehalt entspricht dem Preis von zwei Milchkannen".
Auf dem Plakat der Demonstrantin steht: "Mein Gehalt entspricht dem Preis von zwei Milchkannen".

© Marwan Naamani/dpa

Einfache Lebensmittel werden zu Luxusgütern und die Regierung hat der wirtschaftlichen Depression nichts entgegenzusetzen. Am Sonntagabend kam es zu landesweiten Blockaden an Straßen und Autobahnen.

Im späteren Verlauf des Abends wurden mehrere Bankfilialen als Symbol der finanziellen Krise in Brand gesetzt. In der Nacht zu Dienstag wurde Libanons zweitgrößte Stadt Tripoli ihrem Spitznamen als „Herz der Revolution“ einmal mehr gerecht: In der ärmsten Stadt des gesamten Mittelmeerraums versammelten sich Tausende spät am Abend auf dem zentralen Al-Nour-Platz.

Das erste Todesopfer dieses Jahres

Die Menschen griffen auch dort mehrere Bankfilialen an und bewarfen Sicherheitskräfte mit Steinen. Diese reagierten mit Gummigeschossen und - nach Augenzeugenberichten - auch erstmals mit scharfer Munition.

Anders als üblich unterbrachen die großen libanesischen Fernsehsender ihr Programm nicht, um die Ausschreitungen live zu dokumentieren.

Stattdessen liefen klassische arabische Ramadan-Serien über den Fernsehbildschirm was in weiten Teilen der Bevölkerung für großes Unverständnis sorgte.

Und so machte auch erst sehr spät die Meldung die Runde, dass dutzende Menschen bei den nächtlichen Krawallen teilweise schwer verletzt worden sind. Einer von ihnen, der 26-jährige Fawaz Fouad al-Samman, erlag am Dienstagmorgen seinen Verletzungen und ist damit das erste Todesopfer der Proteste im Jahr 2020. 

Viele der Demonstranten richten ihre Wut gegen Banken, wie hier in Tripoli.
Viele der Demonstranten richten ihre Wut gegen Banken, wie hier in Tripoli.

© Ibrahim Chalhoub/AFP

Der UN-Sonderkoordinator für den Libanon Jan Kubis bezeichnete den 26-jährigen Fawaz Fouad al-Samman als „Märtyrer“ und griff mit ungewöhnlich scharfen Worten die politische Führung an: „Die tragischen Ereignisse in Tripoli senden ein Warnsignal an die politische Elite des Landes, dass es jetzt Zeit ist, die verzweifelte, verarmte und hungrige Mehrheit der Libanesen materiell zu unterstützen.“

Auch die libanesische Armee selbst drückte in einem am Dienstag veröffentlichten Twitter-Statement, ihr Beileid für den Tod des jungen Mannes aus und nannte ihn ebenfalls einen „Märtyrer“.

Außerdem gaben die Streitkräfte bekannt, eine offizielle Untersuchung zu den Todesumständen des 26-Jährigen einzuleiten. Auf Seiten der Sicherheitskräfte sollen nach Armeeangaben 54 Personen verletzt worden sein.

Die libanesische Armee hat sich - wie hier in Tripoli - auf den Straßen formiert.
Die libanesische Armee hat sich - wie hier in Tripoli - auf den Straßen formiert.

© Omar Ibrahim/Reuters

Das libanesische Militär befindet sich bereits seit dem Beginn der Massenproteste in einer Sonderrolle. Die Armee gilt als einer der wenigen Institutionen im Land, die konfessionell und religiös durchmischt sind. Sunnitische Soldaten dienen in gleichen Einheiten wie christliche oder schiitische. Dadurch genießt das Heer ein gewissen Vertrauen in der Bevölkerung, auch weil viele Soldaten in der Vergangenheit bereits mit der Protestbewegung sympathisierten. 

Schon am Dienstagmittag wurde Fawaz Fouad al-Samman von hunderten Trauernden zu Grabe getragen. Im Anschluss an den Trauerzug brandeten erneut Proteste auf. Mehre Banken in Tripoli fielen, wie schon in den vergangenen Tagen, Molotowcocktails zu Opfer und brannten vollständig aus.

Die Soldaten wirken zögerlicher

Sicherheitskräfte setzten am Nachmittag Tränengas gegen Protestierende ein. Anders als am Vorabend wirkten einzelne Soldaten jedoch sehr viel zögerlicher.

Auf den Live-Bildern des Fernsehsenders Al Jadeed waren Angehörige der Streitkräfte zu beobachten, die nur vorsichtig ihre Gewehre anlegten, um sich dann ohne den Abzug zu drücken wieder zurückzuziehen.

Es ist nicht damit zu rechnen, dass die Menschen die Straßen schnell wieder verlassen. Trotz Covid-19 und großer Ansteckungsgefahr hört man am Dienstagnachmittag immer wieder den Satz: „Der Hunger ist größer als die Angst.“

Julius Geiler

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